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Dieses Buch habe ich tatsächlich völlig unerwartet bei einer Lovelybooks-Runde gewonnen, bei der ich mich eher ohne große Erwartungen beworben habe – und siehe da! Ich habe eines der 50 Leseexemplare ergattert. Sonst bin ich eher nicht so der Verlosungs-Sieger-Typ 😉 Ich freue mich! Raffaella Romagnolo war mir ein Begriff durch ihr vorheriges Werk „Bella ciao“, das ich zwar nicht gelesen habe, das sich in der Buchhandlung meines Herzens aber wie geschnitten Brot verkaufte. Ich war also gespannt. „Dieses ganze Leben“ ist ein Roman, der vom Erwachsenwerden und vom Umgang mit den Unwägbarkeiten des Lebens allgemein handelt. Er ist nicht etwa auf jugendliche Leser zugeschnitten, sondern trotz seiner Teenager-Protagonistin ein Roman, der für viele Altersgruppen funktionieren kann. Paola ist auf der sonnigen Seite des Lebens geboren: Ihre Eltern sind sehr reich, sie wohnt in der Stadt in der richtigen Ecke – nicht etwa in der Siedlung, die alle die Margeriten-Siedlung nennen, die aber längst nicht so romantisch ist, wie man bei diesem Namen denken könnte. Es handelt sich um große Wohnblocks, mit denen Paolas Familie aber dennoch verbunden ist – sie haben sie nämlich gebaut. Schon der Großvater war in der Baubranche, jetzt leitet der Vater das Unternehmen. Doch auch wenn sie wie die Made im Speck lebt, ist ihr Leben nicht frei von Konflikten und Problemen. Ihr kleiner Bruder, den sie liebevoll „Opf“ nennt, ist in seiner Entwicklung zurückgeblieben, kann aufgrund seiner körperlichen Behinderung kaum laufen, sitzt also meist im Rollstuhl und kann sich nicht besonders klar artikulieren. Doch unterschätzen darf man Riccardo, wie er wirklich heißt, nicht – denn er ist ganz schön clever und liebt es zum Beispiel, Schach zu spielen. Paolas Leben hat also durchaus auch Schattenseiten, so auch die Tatsache, dass ihr Vater kaum zu Hause ist und nur arbeitet und ihre Mutter meist unterwegs ist, um zu shoppen. Wenn sie zu Hause ist, überhäuft sie Paola mit Ideen, wie diese ihr Äußeres optimieren könnte. Neueste Idee: Paola muss jeden Tag 60 Minuten mit ihrem Bruder spazieren gehen, damit sie mehr Bewegung hat. Denn, Paola ist laut Selbsteinschätzung und die ihrer Mutter leicht übergewichtig. Paolas Großmutter, die selbst ein elfenhaftes Wesen ist, trotz ihres Alters, sieht das ganz anders, was Paola ihr aber nicht abnimmt. Paola ist entwaffnend ehrlich, natürlich auch überkritisch und sehr, sehr lakonisch in ihrem Sprachduktus. Ich bin hässlich. Das ist die Wahrheit, die schlichte, unzweifelhafte Wahrheit. Natürlich habe ich auch gute Seiten: Zum Beispiel bin ich nicht feige, ich suche keine Ausflüchte, ich kann der Wahrheit ins Auge sehen. Und die Wirklichkeit ist, dass ich hässlich bin. Besonders beliebt ist Paola auch nicht, sie hat zwar keine wirklichen Feinde, langweilt sich aber überdurchschnittlich mit Gleichaltrigen und durfte auch schon Mobbing-Erfahrung sammeln. Alles in allem also eher ein durchwachsenes Dasein derzeit … Das ändert sich allmählich, als sie anfängt, mit ihrem Bruder in den 60 Minuten Spaziergangzeit in die Margeriten-Siedlung zu laufen und sich dort mit Antonio zu treffen, dessen Bruder mit Riccardo Schach spielt. Während die Jüngeren Schach spielen, unterhalten sich die beiden Teenies, denn erstaunlicherweise mag Antonio Paola, auch wenn sie das völlig abwegig findet und nicht akzeptieren kann. Entsprechend kratzbürstig und distanziert verhält sie sich meist ihm gegenüber. Dies ist die eine Ebene, auf der wir uns bewegen. Dann gibt es aber auch noch den Erzählstrang über Paolas Großmutter, die eigentlich seit Urzeiten in den Gärtner verliebt ist und er in sie, doch aus pragmatischen Gründen (und weil es ihr Vater wollte) hat sie sich vor einem halben Leben für den „Dottore“, ihren reichen, mittlerweile verstorbenen Ehemann entschieden. Der, der die Margeriten-Siedlung gebaut hat. Wir verfolgen als Leser aber auch den Strang, der sich um die Geschichte der Eltern von Paola dreht, deren Lebensdrama nämlich ebenfalls eng mit der Siedlung verknüpft ist. Paolas Mutter, das findet Paola irgendwann heraus, war nämlich mal auf dem Posten, den ihr Vater nun inne hat. Und wie es dazu kam, dass sie dort nicht mehr arbeitet, dafür aber er, und was das für die Familie bedeutet, deckt Paola nach und nach auf. Es ist, als würde sie bei einer Zwiebel Schicht für Schicht abtragen. Es ist eine echte Ent-Täuschung. Und nicht nur sie bringt hier einige Dinge ins Rollen, auch ihre Mutter. Das alles sind Gründe, weshalb Paola am Ende des Buches deutlich erwachsener ist als zu Beginn. Sie durchlebt eine Art Katharsis, muss auch ihren Weg gehen in der jungen Freundschaft zu Antonio, den sie durch ihre Ängste und Zweifel verliert, und um den sie kämpfen sollte, um ihn „wiederzubekommen“. Doch dazu braucht es innere Stärke, die sie erst noch entwickeln muss. Auf diesem unebenen Weg zur Läuterung der Protagonistin, bei dem wir Paola begleiten, dürfen wir uns als Leser an einem sehr originellen Schreibstil erfreuen: Paolas Mutter schickt ihre Tochter zum Psychologen, weil sie der Tatsache auf den Grund gehen möchte, dass Paola zeitweise das Reden mit Klassenkameraden einstellte. Dieser Arzt macht eine Sitzung mit ihr und will wissen, wie es dazu kam, dass sie so handelte in der Schule. Sie erklärt ihm, dass sie einfach alle blöd fand und ausprobieren wollte, was passiert, wenn sie aufhört zu sprechen. „Und, wie ist es gelaufen?“ „Schlecht. Sie sind noch genauso, und ich bin in der Pause immer allein.“ Der falsche Doktor hat ein ausdrucksloses Gesicht gemacht, so ein Gesicht habe ich nie mehr gesehen. Dachte er wirklich an nichts? Ist es möglich, an nichts zu denken? Das würde ich gerne lernen, so ein Gesicht zu machen, es könnte nützlich sein. Er hat etwas auf ein Blatt Papier geschrieben und mich dann gefragt, warum ich es meiner Mutter nicht erklärt habe. „Sie hat mich nicht danach gefragt.“ „Lakonisch und idiosynkratisch“, hat er erwidert. Ein Triumph. Schön, weil unerwartet. Diese Sprache hat mich phasenweise wirklich umgehauen, weil sie mit einer solchen Wucht lakonisch ist, dass es mir eine wahre Freude war. Doch in der Diskussion innerhalb der Leserunde kam auch heraus, wie viele Anspielungen sich in diesem Roman finden lassen, die sich auf große Werke der Weltliteratur beziehen. Mir wäre die Hälfte davon nicht aufgefallen, aber meine belesenen, klugen Mitstreiter/-innen in der Leserunde machten mich darauf aufmerksam. Ein Buch mit vielen Ebenen, das Freude macht und die Spannung hält bis zum – doch recht überraschend knappen – Ende. Trotzdem muss ich ein wenig mäkeln, denn es ist ein rascher Lesegenuss ohne viel Substanz. Wenige Zeit und einige Bücher später kann ich schon kaum noch Details erinnern, geschweige denn Szenen nacherzählen, die im Gedächtnis geblieben wären. Ein Buch also, das gut unterhält, das mich persönlich auf meinem Lebensweg jedoch nicht nachhaltig inspiriert oder beeindruckt hat.