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daslesendesatzzeichen

Posted on 25.1.2021

Wahrscheinlich ausgelöst durch den völlig unerwarteten Tod des Ehemanns einer lieben alten Freundin, der bei einer Bergtour in der Schweiz tödlich verunglückte, treibt es mich gerade sehr in die Ecke der Bücher, die einem etwas mitgeben, die nicht nur eine Geschichte erzählen, sondern Lebensweisheiten vermitteln. Wenn ein Autor es schafft, seinen Protagonisten Dinge erleben zu lassen, die dem Leser Anregungen zum Umgang mit schwierigen Situationen im Leben bieten, dann ist das ein Mehrwert, auf den ich momentan nicht verzichten möchte. Ich habe mehrere tolle Bücher verschlungen und werde sie vielleicht alle nach und nach vorstellen, heute aber, aus Zeitmangel, nur eines davon. Fangen wir mit Kate Gordon und ihrem „Girl running, boy falling“ an. Eine Geschichte, die in Downunder spielt und mich sofort alleine durchs Cover (sieht aus wie eine Nahaufnahme eines Strickpullis) und den punktgenauen, atmosphärischen Text der U4 angefixt hat. Eine Clique, bestehend aus 2 Jungs und 3 Mädchen, die vor allem in der Schule, aber auch in der Freizeit mal als große Clique, aber auch gern in wechselnden Kleingruppen zusammen auftauchen. Alle sind unterschiedlich, aber alle akzeptieren sich untereinander. Das große Footballtalent und der Schwarm vieler Mädchen, Nick Wallace genannt Wally, ist der beste Freund der ruhelosen Therese, die so viele Kosenamen wie Facetten ihrer Persönlichkeit hat. Da ist der eher unauffällige Peter, der gern so wie Wally wäre, von den Mädels aber entweder als langweilig oder aufdringlich wahrgenommen wird, und der es bislang nie ins Football-Team geschafft hat. Und da sind die strebsame, brave, treue Seele Roz, deren Eltern sehr reich, aber auch sehr streng sind, und schließlich Melody, die extrem cool, schlagfertig, analysierend und vor allem sehr extrovertiert lesbisch ist. Sie alle sind durch ein unsichtbares Netz der Freundschaft miteinander verwoben, sie foppen, sie stützen, sie mögen sich. Und Therese, meist Tiger genannt, liebt Wally seit sie denken kann. Doch noch weiß er es nicht, aber vielleicht ahnt er es? Die beiden haben die intensivste Beziehung innerhalb dieser kleinen „Bubble“, sie hängen oft zusammen ab, er zeigt ihr auch ganz besondere Seiten von sich, die er so keinem anderen offenbaren würde. Er rezitiert Gedichte, er philosophiert mit ihr, ist nachdenklich – setzt einen Kontrapunkt zu dem körperlichen Wally vom Footballteam, wie ihn die restlichen Schüler wohl wahrnehmen und irgendwann, sie hat schon fast die Hoffnung aufgegeben, küsst er sie. Fast die erste Hälfte des Buches wird darauf verwandt, diesen Mikrokosmos zu beschreiben. Alle Personen werden greifbar, sie alle bekommen Tiefe, Substanz, bleiben keine platten Namen, sie werden im Lauf der vielen Seiten zu echten Persönlichkeiten. Dann kommt der Cut, auf den man unbewusst hinliest, fast hinfiebert, da man diesen Wendepunkt der Geschichte bereits auf der U4 präsentiert bekommt: „Der strahlende Wally, die nächste große Football-Hoffnung der Schule, der Junge, der ihr Herz höherschlagen lässt, nimmt sich das Leben.“ Das ist so unfassbar, es stockt einem förmlich der Atem, wenn es geschieht. Und nun geht es da weiter, wo Filme oder Märchen gerne mal aufhören: da, wo es unbequem wird! Die zweite Hälfte des Buches beschreibt ganz unglaublich zart, ehrlich, ungefälscht, normal, wie sich Tiger versucht zurück ins normale Leben zu kämpfen. Sie kann nicht weinen, sie ist unglaublich wütend, fassungslos, dass dieser Mistkerl sie küsst und dann geht. Für immer. Ihr scheint, als habe er sie verraten, mehr als das: betrogen und es ihr unmöglich gemacht, über diesen wundervollen Kuss, diesen langerwarteten Moment länger als ein paar Stunden Freude zu empfinden. Sie kann die Hilfe der Freunde lange nicht annehmen, findet Trost beim Team ihres Nebenjobs bei „Woolworth“ und Halt bei ihrer Großmutter und Tante. Denn neben dem Drama um Wally hat Tiger auch noch eine mehr als ungewöhnliche Familienkonstellation, die ihr Leben nicht unbedingt einfacher macht. Und so macht Tiger das, was wohl die einzige Überlebensstrategie ist: Sie setzt immer nur einen Schritt vor den anderen, schaut nicht in die Ferne, nur gerade so weit vor die Füße, wie es notwendig ist, um nicht zu fallen. Und nach und nach kann sie wieder Licht und Glück und Fröhlichkeit und überhaupt irgendwelche Gefühle empfinden – und nach und nach kann sie auch das große Mysterium um Wallys Selbstmord ein wenig für sich erhellen. Als Leser begleitet man sie bis zu einem Punkt, an dem man für sich selbst beschließen kann, sie nun gehen zu lassen, man merkt, dass sie über den Berg ist – und die Autorin beendet den kurzen Snapshot auf diese Clique, auf diese Schule, auf diesen Mikrokosmos. Aber es ist okay, denn wir wissen, sie alle werden es schaffen, sind gewachsen an diesem furchtbaren Schicksal. Es ist kein grauer, deprimierender Text, es ist ein froher, mutmachender, der zeigt, dass in ALLEN Lebenslagen auch etwas Positives entstehen kann. So wie der blasse Peter es schafft, aus der Trauer um Wally Kraft zu ziehen, sich ins Training zu stürzen, sodass er tatsächlich zum ersten Mal ernsthafte Chancen hat, ins Footballteam aufgenommen zu werden, oder so wie es Melody schafft, nicht immer nur distanziert zu analysieren, sondern sich selbst auch einmal auf das Abenteuer Liebe einzulassen – auch das eine Entwicklung, die ohne den Tod Wallys nicht zu diesem Zeitpunkt geschehen wäre. Ein grandioser „Coming-of-age“-Roman, wie er gleich betitelt wurde vom Verlag und somit in eine passende Schublade gesteckt wurde, die des Jugendromans. Das Buch bietet aber viel mehr Personenkreisen als nur den Jugendlichen Weisheiten und Lebenstipps. Ein Buch für alle, die gerne etwas mehr mitnehmen von einer Geschichte als das bloße Lesevergnügen.

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