Profilbild von Yvonne Franke

Yvonne Franke

Posted on 25.1.2021

Benjamin Moser leitet seine Ergründung des Lebens der großen Denkerin Susan Sontag mit der eines Fotos ein, das Jahre vor ihrer Geburt entstanden ist. Eine Schwarzweiß-Fotografie aus dem Jahr 1919 zeigt eine verstört wirkende junge Frau und ihre heranwachsende Tochter, die sie zu trösten versucht. Im Vordergrund bedrohlich wirkende Schatten. Die beiden Frauen sind Susan Sontags Großmutter Sarah und deren 13-jährige Tochter Mildred – Sontags Mutter. Zwei Flüchtende die vielleicht gerade mit Waffen bedroht werden, denkt man beim ersten Betrachten. In Wahrheit aber sind beide Komparsinnen in einem frühen Hollywood-Film mit dem Titel „Ravished Armenia” („Geschundenes Armenien”). Moser beginnt also mit der Illusion einer Herkunft, mit einem Eindruck, der nicht die Wirklichkeit wiederspiegelt. Dieser Einstieg führt so direkt in die Innenwelt Susan Sontags, dass er fast die Wirkung eines Zaubertricks hat. Denn die Diskrepanz zwischen Außenwelt und Innenleben bleibt der rote Faden dieser Lebenserzählung. Der ewige Kampf zwischen Susan Sontag und „Susan Sontag”. Der Autor führt uns durch eine Kindheit, die keine Kindheit ist; in der Sontag, deren Vater starb, als sie fünf Jahre alt war, ihrer Mutter höchstens als Spielgefährtin dient. Dann zahlreiche Schulwechsel, die Sontag jedes Mal dazu nutzt sich eine neue Vergangenheit zu geben und sich den Mitschüler*innen als eine neue Susan vorzustellen. Immer wieder schreibt sie darüber, keine Verbindung zu ihrem eigenen Körper zu spüren. Sie definiert sich voll und ganz über den Verstand. Ein Mangel, der sich erst zerschlägt, als sie sich zum ersten Mal in eine Frau verliebt. Doch auch später bleibt ihre Erfahrungswelt eher eine ästhetische, intellektuelle. Auf Zugreisen sieht sie nicht aus dem Fenster. Sie glaubt, dass man einen unbekannten Ort besser durch Daten und Fakten begreifen kann, als durch einfaches Hinsehen. Vielleicht musste sie deshalb so intensiv über Außenwelten schreiben (z.B. in „Über Fotografie”) – um das Visuelle, das ihr so fremd war, zu erforschen. Das sind Verknüpfungen zwischen Künstlerin und Werk, die man ohne Mosers Recherchen kaum hätte begreifen können.

zurück nach oben