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Babscha

Posted on 25.1.2021

Chris McCandless, ein junger Mann Anfang Zwanzig aus Virginia, kappt 1990 nach seinem Collegeabschluss alle Verbindungen zu seiner Familie und taucht vollständig ab. Nach einem zweijährigen Trip durch verschiedene US-Bundesstaaten und Kanada strandet er zuletzt in der Wildnis Alaskas, wo er aufgrund seiner völlig unzureichenden Ausrüstung und mangels ausreichender Ernährung Mitte 1992 den Tod findet. Bei ihm gefunden wird ein Tagebuch, in dem er seine Gedanken zum Leben, seinen Zielen, der Sinnsuche im Leben und zuletzt auch seinem einsamen Überlebenskampf festhält. Der bekannte investigative Journalist Jon Krakauer erhält den Auftrag, für einen Zeitungsartikel über das Leben des Verstorbenen zu recherchieren. Dies mündet einige Jahre später in der Publikation seines Weltbestsellers „Into the Wild“, der ein Jahrzehnt später von Sean Penn mit dem großartigen Emile Hirsch in der Hauptrolle erfolgreich verfilmt wird. In Buch und Film klangen Chris sehr spezielle Persönlichkeit, sein Eigensinn und die Prägung durch sein schwieriges Elternhaus zwar durchaus an, blieben dort aber vor dem schillernden Hintergrund des romantisch verklärten Mythos eines aufrechten und kompromisslosen Aussteigers, der sein Ding bis zum bitteren Ende gnadenlos durchzieht, eher im Hintergrund. Jahre später, in 2014, bricht die Autorin des vorliegenden Buches, seine jüngere Schwester, ihr Schweigen und informiert die Öffentlichkeit über die wahren Hintergründe, warum ihr Bruder damals mit wahrlich „leichtem Gepäck“ in die Wildnis verschwand. Schonungslos erzählt sie von ihrer beider Jugend in einer Familie mit wohlsituierten, aber gefühlskalten Eltern, einer Welt voller permanentem Streit und Wahrheitsverleugnung, in dem es nur um Geld, den schönen Schein und Außenwirkung ging und beide Elternteile ihre geistigen Deformationen vornehmlich an ihren Kindern abreagierten. Seitens des sadistisch veranlagten Vaters gerne auch in physischer Form. Nahezu unfassbar der Bericht über diesen Mann, der in den späten Sechzigerjahren noch jahrelang mit einer Frau verheiratet war, mit der er sechs Kinder gezeugt hatte, während er die blutjunge, unwissende Mutter von Chris und Carine ehelichte und auch später noch über Jahre ein Doppelleben mit zwei Familien führte. Die tiefe emotionale Verbindung und das Vertrauen zwischen den Geschwistern, letztlich Rettungsanker, um ihr Elternhaus zu überleben, wird im Buch sehr gut greifbar. Und während der drei Jahre ältere intelligente Chris sich emotional bereits in frühen Jahren vollständig von seinen Eltern abwendet und den endgültigen Bruch lange geplant hat, berichtet die weitaus bodenständigere , aber auch reichlich naive Carine hier sehr ehrlich von ihren diversen eigenen Fehlern und Versäumnissen, unter anderem dem Albtraum ihrer spontanen frühen Ehe mit gerade achtzehn mit einem durchgeknallten Iren sowie zwei weiteren gescheiterten Ehen. Aber auch von ihrer persönlichen Weiterentwicklung und Reifung im Laufe der Jahre, bei der ihre enge Beziehung zu ihren diversen Halbgeschwistern offensichtlich wesentlich beigetragen hat. Insgesamt sehe ich das Buch leicht zwiespältig. Die erzählten Fakten um ihre direkte Familie (und deswegen wollte man das Buch ja lesen) sind sehr dicht geschrieben und interessant geschildert. Leider verliert sich die Autorin in der zweiten Hälfte jedoch zum einen in endlosen und ausufernden Schilderungen der Unverschämtheiten und Manipulationsversuche ihrer wahrlich durchgeknallten Eltern (wobei sie allerdings bis heute niemals den Mut aufbringt, hier wirklich mal klare Kante zu machen, was das Ganze irgendwie auf einen unausgegorenen und nur bedingt glaubhaften späten Rachefeldzug reduziert) wie auch in einer typisch amerikanischen, völlig überzeichneten Darstellung ihrer eigenen, natürlich immer extremen und großen Gefühlslagen zwischen Verzweiflung, Weinkrämpfen, Zusammenbrüchen und extremer Euphorie. So genau wollten wir es dann auch wieder nicht wissen, zumal die ganzen überschwänglichen und in dieser Form überflüssigen Lobgesänge auf ihre Geschwister, Kinder und sonstige Beteiligte irgendwann echt nerven und die Lektüre leicht quälend werden lassen. Nichtsdestotrotz für Menschen, die sich mit dem Leben von Chris McCandless in Buch und/oder Film in der Vergangenheit näher befasst haben, eine insgesamt durchaus lohnende Lektüre, zumal im Buch auch mit viel persönlichem Bildmaterial unterlegt.

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