Gabriele
Als ich dieses Buch im Januar 2021 beendete, stand es auf Platz sieben der Independent Bestseller, obwohl meine Ausgabe bereits 2012 auf den Markt kam. Es zu lesen war auf mehreren Ebenen bereichernd: zum einen wegen der Geschichte Südtirols, die mir bisher nicht geläufig war, zum anderen wegen der hier beschriebenen menschlichen Schicksale. „Nicht zu schlafen konnte die Rettung bedeuten“ (Seite 266). Das hatte Eva, die uneheliche Tochter der Küchenhilfe Gerda, schon mit 5 Jahren erfahren. Liebe- und humorvoll erzählt sie von ihrer Kindheit auf einem Hof mit vielen Kindern und den Ferientagen mit ihrer Mutter. Während sie sich ihren Erinnerungen hingibt, fährt sie mit dem Zug durch ganz Italien – 1397 km. Indem sie aus dem Fenster schaut, zeigt sie uns die sich verändernde Landschaft. In den nach Jahren geordneten Abschnitten des zweiten Erzählstrangs wird davon berichtet, wie Südtirol 1919 (nach dem großen Krieg und während der spanischen Grippe) Italien zugeschlagen wurde. Natürlich haben sich die deutschsprachigen Bewohner dagegen aufgelehnt, plötzlich nur noch italienisch sprechen zu dürfen. Es kam bis 1969 zu Aufständen und Terroranschlägen, zu Grausamkeiten von den Welschen und den Italienern. Eva, die vom heute erzählt, macht die Zweisprachigkeit deutlich, indem sie nicht nur von Alto Adige/Südtirol spricht, sondern jeweils beide Namen eines Ortes erwähnt, was zwischendurch zu Verwirrung beitragen kann. Erst nach und nach wird klar, weshalb sie nach Sizilien aufgebrochen ist und wie sie zu Vito steht, dem Mann, der eine Zeit lang die Rolle ihres Vaters übernommen hatte. Um eine kleine Kostprobe des Schreibstils zu geben, möchte ich diesen Ausschnitt über Evas Mutter von Seite 204 zitieren: „Die Nacht verbrachten sie zusammen in seinem Lieferwagen und liebten sich zwischen Zucker- und Mehlsäcken. Als sie ins Hotel zurückkehrte, hingen in ihren blonden Haaren Silberkügelchen, Schokoblättchen und bunte Zuckerstreusel, und dank der erfahrenen Hände des Zuckerbuben fühlte sie sich so cremig fluffig und leicht wie Karnevalskuchen.“ Solche humorvollen Abschnitte erleichtern es, auch die unvermeidlichen Grausamkeiten zu verkraften. Insgesamt empfinde ich das Buch als hervorragende, runde Komposition, die durch das Glossar am Ende des Buches noch aufgewertet wird.