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anne_hahn

Posted on 24.1.2021

Für meinen nächsten Lesezirkeltermin Ende Januar habe ich gerade Teju Coles Jeder Tag gehört dem Dieb noch einmal gelesen. Das erste Mal liegt einige Jahre zurück, erstaunlich, wie unterschiedlich ich die Lektüre wahrnehme. Die 2007 auf Englisch erschienenen Blogeinträge (2015 auf Deutsch) des 1975 in Nigeria geborenen Kunsthistorikers, Schriftstellers und Fotografen berühren mich jetzt neu und anders. Teju Cole reist nach Nigeria, besucht Verwandte, trifft alte Freunde und schaut sich um. Der Blick auf seine Heimat ist zwiespältig, er fragt sich angesichts der vielen gravierenden Missstände, ob er die Toleranz aufbringen könnte, die in diesem Land nötig ist? Ob er mit der Wut umgehen könnte, die Nigeria in ihm auslöst, und mit den vielen Konflikten, die einen Humanisten wie ihn an diesem Ort erwarten. Und wie wütend Teju Cole werden kann. Wütend über Straßenräuber, E-Mail-Vorkasse-Betrüger, Stromausfälle, Fake-Polizisten und das erbarmungswürdige Nationalmuseum, in welchem er wenigstens ein paar der kostbaren Bronzen erwartet hatte, die in Wahrheit über die Museen der ersten Welt verteilt sind. Ich wandere mit Teju Cole über die Märkte, die staubigen Straßen, sehe die Farben, höre das Stimmengewirr, spüre die Hitze – obwohl ich noch nie in Nigeria war. Aber, und da fallen sie auch schon, ich bin dem Land in Büchern begegnet; Cole nennt Namen: Ken Saro-Wiwa, den indigenen, hingerichteten Schriftsteller und Bürgerrechtler (dessen Anti-Kriegsroman Sozaboy ich neulich wiederstrebend lieben lernte) und die inzwischen weltbekannte Schriftstellerin Chimamanda Ngozi Adichie. Das Debüt der 1977 in Nigeria geborenen und kaum volljährig (wie Teju Cole) in die Vereinigten Staaten übergesiedelten Autorin und Feministin fiel mir kürzlich in die Hände – und ich war schockiert. 335 Seiten umfasst die Taschenbuchausgabe (6. Auflage 2020) des Blauen Hibiskus, die mich verstört zurückließ. Es ist eine Qual, dieses Buch zu lesen! Selten habe ich bei einer Lektüre eine solche Wut, gar Mordgelüste entwickelt. Die 15-jährige Ich-Erzählerin Kambili berichtet über einige Monate ihres Lebens im Nigeria der Unruhen und des Umbruchs, mit einem Zeitsprung von einigen Jahren im letzten Abschnitt. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ihr Vater, der grausame Patriarch und strenggläubige Katholik Eugene, welcher äußerst brutal seine Frau und zwei Kinder tyrannisiert und misshandelt. Unerträglich wäre das Buch, welches detailliert diese Torturen schildert, wenn nicht Tante Ifeoma die Geschwister aus dem Alptraum entführen und allmählich sozialisieren würde. Chimamanda Ngozi Adichie wurde international bereits mit ihrem Debüt-Roman berühmt und ausgezeichnet, in Deutschland sollte ihr erst ihr Roman Americanah (2014) den Durchbruch bringen und bewirken, dass Blauer Hibiskus (2005) mit Preisen geehrt und verstärkt wahrgenommen wurde. Ich habe erst eine versöhnliche Haltung zum Blauen Hibiskus gefunden, als ich Teju Cole las. In seine Betrachtungen zu Wirtschaft, Kunst und Religion eintauchte. Die literarische Überhöhung im Abgleich mit der Gegenwart an-erkannte. Fanatische Religion jeder Art ist mir ein Graus. Cole stellt als einen Fakt der Gemengelage fest, dass in Nigeria militante Christen auf dem Vormarsch sind, der Islam sich radikalisiert und der Glaube an Magie und die Kräfte des Bösen noch immer weit verbreitet ist. Und postuliert weiter: "Nigerias Realitätsverlust lässt sich wunderbar anhand von drei Meldungen ablesen, die kürzlich in den Weltmedien über das Land kursierten. Nigeria wurde zum religiösesten Land der Welt erklärt. Außerdem fand man heraus, dass die Nigerianer die glücklichsten Menschen sind, und laut Transparancy International ist Nigeria 2005 das drittkorrupteste von 159 Ländern. Religion, Korruption, Glück. Wenn alle so glücklich sind, warum kümmert man sich dann so wenig um die Menschenrechte und ein ethnisches Zusammenleben? Und wenn alle so glücklich sind, warum dann dieser Überdruss und dieses unterdrückte Leiden? Fela Kutis prophetischer Song "Shuffering and Shmiling" bringt es noch immer auf den Punkt. [...] Es ist falsch, unglücklich zu sein. Und es gibt keinen Grund, sich in Details zu verlieren. Was zählt, ist die prinzipielle Idee."

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