Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 21.1.2021

Im Winter 1978/79 erarbeitet sich die 20-jährige Schauspielschülerin Candice in einer Frauen-Theatergruppe ihre Rolle als Richard III. Sie führt dazu ein Werkstattbuch und diskutiert mit ihren Kolleginnen die Gemeinsamkeiten zwischen Richard und Politikern der Gegenwart. So fragt sich Candice, was eigentlich Leute von den Tyrannen vergangener Epochen unterscheidet, denen heute ganze Stadtviertel gehören. Ihren Lebensunterhalt verdient Candice als Fahrradkurierin bei City Wheelz, einer Firma, die als Reaktion auf den Zusammenbruch des öffentlichen Lebens in England durch zahlreiche Streiks gegründet wurde. Candice kennt ihre Stadt nicht wieder und ihre Eltern müssen damit rechnen, bald ihre Wohnung zu verlieren. Die Regierung Callaghan sah sich einer Stagflation, steigenden Preisen und daraus folgenden Streiks um Lohnerhöhungen gegenüber. Streiks der Bergarbeiter, in der Ölindustrie, im Öffentlichen Dienst und Demonstrationen der Ford-Arbeiter legten kurz vor Wintereinbruch das öffentliche Leben lahm. England stand am Abgrund und die euphemistische Bezeichnung „Winter of Discontent“ war nur ein weiteres Zeichen der Entfremdung zwischen Regierung und der arbeitenden Bevölkerung, die sich die Mieten z. B. in London nicht mehr leisten konnte. Wer in die Außenbezirke gezogen war, wurde von den Streiks nun hart getroffen und musste zusehen, irgendwie zur Arbeit zu kommen. Candice ist ruhelos, ständig in Bewegung, um nicht allein zu sein. Im Gegensatz zu ihr verharrt die britische Gesellschaft im Stillstand, unfähig ihre Konflikte zu lösen. Das Proben für „Richard III.“ hat die Schauspielerinnen mit dem Thema Verantwortung konfrontiert und so liegt es nahe, dass Candice sich an der passiven Haltung ihrer Mutter aufreibt, die die Gewalttätigkeit des Vaters duldete und ihre jüngere Tochter damit aus dem Haus trieb. Schließlich trifft Reverdys Heldin zufällig wieder auf jenen Jazzpianisten, der sich stets mit lausigen Jobs über Wasser gehalten hatte und damit stellvertretend für beide stehen kann. Auf Augenhöhe seiner Radfahrerin vermittelt Thomas Reverdy vor stetig wachsendem Chaos ein atmosphärisches Bild Londons. Den beispielhaften Niedergang Großbritanniens beschreibt der Autor in leicht zynischem Ton, in seiner Wirkung fast apokalyptisch. Jedes Kapitel wird von einem Songtitel der 70er Jahre eingeleitet. Die Playlist im Anhang dokumentiert auf anderer Ebene die Unzufriedenheit jener Epoche, die mit der Wahl der Regierung Thatcher erst den Anfang vom Ende einleitete. Wie Candice den Niedergang einer Epoche im Alltag und auf der Bühne erlebt, fügt sich zu einem zeitlosen Lehrstück.

zurück nach oben