Buchdoktor
Als Mitglied einer militanten Studentengruppe in Bengalen, die der marxistisch-leninistischen Naxalbari-Partei nahestand, hätte Udayan niemals heiraten dürfen. Seine Frau Gauri ist in der Familie Mitra unerwünscht, weil Udayans Eltern die Ehe nicht arrangiert haben, und fortan verplichtet, sich in allem ihrer Schwiegermutter unterzuordnen. Udayan und sein Bruder Subhash, die einander als Kinder zugetan waren wie Zwillinge, sind 1943 und 1944 geboren. Als fleißige, technisch und naturwissenschaftlich interessierte Schüler liegt vor den Brüdern in Indien eine solide Ausbildung und anschließend ein Dasein als qualifizierte Arbeitslose. Der ältere Subhash erlangt ein Stipendium zum Studium in den USA und kann sich den traditionellen Vorstellungen der Eltern zunächst entziehen. Als Udayan von der Polizei getötet wird, liegt vor seiner jungen Witwe, die zuvor Philosophie studierte, ein von der Welt abgeschottetes Leben im weißen Sari unter der Fuchtel der Schwiegermutter. Subhash tut, was er nie beabsichtigt hatte. Um Gauri mit nach Rhode Island nehmen zu können, schließt er eine Vernunftehe und übernimmt die Vaterschaft für Udayans ungeborenes Kind. Über Udayans Tod und die Vorstellungen des jungen Paares von ihrer Zukunft wird in der neuen Heimat kaum gesprochen. Subhash stellt sich für Gauri ein traditionelles Dasein als Hausfrau vor, obwohl sich für das Leben eines jungen Paars mit Kind auf dem Campus auch andere Rollenmodelle angeboten hätten. Gauri bringt anfangs jede freie Minute als Gasthörerin an der Uni zu, sie wird gefördert, promoviert, bis sie schließlich förmlich den Sari ablegt, Mann und Kind verlässt, um in Kalifornien selbst Philosophie zu lehren. Der Kontakt zwischen Subhash und Gauri reisst ab. Aus Scham und Sprachlosigkeit verschweigen Subhash und Gauri zukünftig ihr Schicksal und leben, als hätte es nie einen Ehepartner gegeben. Gauri zeigt sich flexibler als ihr zweiter Mann; sie wechselt in kurzer Zeit ihre Rollen von der Studentin zur Witwe, wieder zur Ehefrau, übernimmt die Mutterrolle und legt sie wieder ab. Subhash zieht seine Tochter allein auf, eine Rolle, auf die ihn niemand vorbereitet hat. Er, der arrangierte Ehen abgelehnt hatte, findet selbst im liberalen Uni-Milieu ohne die Orientierung seiner eigenen Kultur nur schwer in seine neue Rolle. Zum Moment der Wahrheit kommt es nie, in dem er seine Tochter Bela über ihre Herkunft informieren könnte. Auch über Indien und die Lebensumstände der Großeltern wird bei Mitras nicht gesprochen. Tochter Bela nimmt als Erwachsene das Leben einer sozial engagierten und umweltbewussten Vagabundin auf und stellt den Lebensentwurf ihres Vaters damit demonstrativ infrage. Den Groll auf den Vater verdrängt Bela jahrelang, dem sie die Schuld daran gibt, dass ihre Mutter die Familie verlassen hat. Ihre Mutter erklärt sie anderen gegenüber für tot. Belas im Vagabundendasein verborgene Rollensuche zeigt beispielhaft, wie schwer eingefahrene Verhaltensmuster als Partner und Eltern zu verändern sind, wenn dafür Vorbilder fehlen. Bela bricht schließlich das Schweigen unter den in alle Winde verstreuten Familienmitgliedern. Jhumpa Lahiri zeichnet auch in "Das Tiefland" (das sumpfige Stück Flachland hinter dem Elternhaus der Brüder Mitra in Kalkutta) das Schicksal bengalischer Einwanderer in den USA nach. Über vier Generationen und mehr als 50 Jahre können Lahiris Leser die Suche der Nachkommen einer traditionellen indischen Familie nach einem neuen Lebensentwurf verfolgen. Ein großartiger Roman mit unvergesslichen Figuren.