maria13
Hier haben wir es mit zwei ganz großen Eigensinnigen zu tun: Der Maler Gerhard Richter fotografiert. Und der Allrounder Alexander Kluge schreibt. Zu verdanken haben wir das zwei Zufällen: Erstens trafen sich die beiden zufällig in einem Engadiner Hotel. Zu Silvester, mitten Schnee. Darum sind all die großartigen Fotos von Gerhard Richter in diesem Buch voller Eis, Schnee und Eiszapfen. Und dem Zufall, dass beide im gleichen Jahr geboren wurden: 1932. Und das auch noch gerade mal fünf Tage nacheinander. Der eine (Kluge) in Halberstadt, Richter in Dresden. Und da haben wir es schon: Das ist allerdings alles andere als Zufall. Denn für Kluge wie für Richter ist das Erinnern gleichermaßen wichtig. So wie Richter in all seinen Bildern ein „Das ist so!“, „Das muss so. Und nicht anders!“ verweigert, so erzählt Kluge seit jeher Geschichten, die voll mit höchst poetischen Grautönen sind. Oft sind es Weglassungen, die dabei „das Eigentliche“ erzählen. Und zwar gerade WEIL er Bücher gern mit anderen Fundstücken aufwertet – Bild, Zeichnung, Erzählung, ganz egal. Diese Art des Erzählens ist vor allem eines: eine Haltung. Die Haltung eines einzelnen Menschen. Die ist zutiefst subjektiv, geht immer von einem ‚Ich‘ aus. Auch wenn das – wie etwa bei Richter – selten offen thematisiert wird. Jede Kleinigkeit zählt, jede Erinnerung, jede Emotion, jedes Bild, jeder Geruch und jeder Satz. Dabei ist immer der Mensch das Maß aller Dinge – der „unterschätzte Mensch“. Das ist ein stehender Begriff für Alexander Kluge: das menschliche Maß, der menschlichen Blick, das menschliche Gefühl. Geschichten dürfen – wie in „Dezember“ – gern auch kurz sein. Denn das Poetische heißt sowieso sammeln, wie Kluge oft betont. Die Mischung ist ihm wichtig: „Indem wir möglichst eine Mischung aus Unwahrscheinlichem und Wahrscheinlichem so zusammenbauen, dass es für Menschen stimmt. Das ist Erzählen“, schreibt er in „Die Kunst, Unterschiede zu machen.“ Diese Art des Erzählens ist für mich der Königsweg des Eigensinns. Darum hebe ich Alexander Kluge auch in „Mein Kompass ist der Eigensinn“ besonders heraus. Für mich ist das, was er erzählt (sei es in Büchern, Filmen oder Interviews) genau das, was ich den „Eigensinn im Dienst von anderen“ nenne. Er ist (tatsächlich studierter) Anwalt im Dienst des Menschlichen. In allem, was er tut, geht es darum, dass der Mensch – mit all seinen Erinnerungen – das Maß aller Dinge ist und bleibt. Und zwar jeder einzelne Mensch. Das ist die Haltung, die im Idealfall aus Eigensinn resultiert. Die Haltung, von der ich träume. Immer geträumt habe. Zu dieser Haltung gehört es auch, dass wir uns selbst die Sicht auf DIE Geschichte wie auf UNSERE Geschichten erst möglich machen. Und das geht so: Eigensinn ist das ganz und gar Individuelle, Subjektive. Er allein bewahrt uns davor, von einer riesigen, ununterscheidbaren, amorphen Masse persönlicher und gesellschaftlicher Eindrücke regelrecht erschlagen zu werden … Nur mit unserem Eigensinn können wir unterscheiden lernen. Und das ist wichtig. Kluge nennt das die „Produktion von Unterscheidungsvermögen“. Das tut er sehr bewusst. Ständig. Und „massenhaft“. Das Buch, um das es hier gehen soll, heißt schlicht „Dezember“. Es ist 2010 erschienen. Und absolut zeitlos. Irgendwann ist schließlich immer wieder Dezember. Es versammelt 39 wunderbar ruhig-strenge Winterfotos aus dem Engadin (Richter) und Geschichten von je einem 1. bis 31. Dezember zwischen 1832 und 2009 (Kluge). Die meisten Einträge tragen ein Datum zwischen 1932 – dem Geburtsjahr sowohl von Kluge wie von Richter – und 1945. Begründung: weil der Zweite Weltkrieg die „Zeitverwandtschaft“ der beiden besonders deutlich mache. 2009 treffen sie sich und realisieren dieses Buchprojekt – auch diese Jahreszahl findet sich in den Einträgen recht häufig. Das Buch wird damit zu einem Blick auf Zeit und Zeiten. Auf Gegenwart und Vergangenheit. Auf Entscheidungen. Ahnungen, Sein und Können. Beispiel gefällig? Die Geschichte vom 3. Dezember 1931. Die beginnt mit „Eisregen über den Straßen Mecklenburgs. Um ein Haar wären Hitler (in seinem schwarzen Mercedes) und die Brautmutter von Goebbels (in einem roten Maybach) von dem Aushilfschauffeur des Ritterguts, auf dem Hochzeitsfeier stattgefunden hatte, zuschanden gefahren worden.“ Es geht um vereiste Straßen (Dezember!) und „beschwipstes Fahren“. Wundervoll dazu die Anmerkung, in der Alexander Kluge schreibt: „Ich, einliegend im wohltemperierten Bauch, wäre beinahe geboren worden, ohne daß Hitler ein Stück Zukunft gehabt hatte. Es fehlte am tödlichen Zusammenstoß auf der Eisfläche ein Abstand von 40 Zentimetern zwischen den hochmotorisierten Fahrzeugen.“ Da wird auch klar: Erinnerung muss nicht unbedingt bedeutet: „Ich kann mich exakt an diesen (Dezember-)Tag erinnern!“ Sie kann auch aus überlieferten Erinnerungen anderer Menschen bestehen. Denn genau das verbindet uns ja – hoffentlich. Darum darf der Strom des Erzählens auch bitte nie abbrechen. Und er sollte so subjektiv wie möglich sein … Denn vor allem dann verstehen wir einander. Und der Eigensinn? Eigensinn bedeutet immer auch Lebendigkeit. Darum spielt die Zeit eine nicht unwichtige Rolle. Kluge formuliert das einem anderen Buch („Die Kunst Unterschiede zu machen“) ein bisschen kompliziert: „Das, was sich in meiner Geschichte, der Geschichte eines lebendigen Menschen, darstellt, ist nicht die ABGESCHLOSSENE VERGANGENHEIT (was war, weil es nicht mehr ist), auch nicht das Perfekt dessen, was gewesen ist in dem, was ich bin, sondern das ANDERE dessen, was ich gewesen sein werde …“ Später wird er deutlicher: „Wähle nur die Zukunft, in der du es aushältst!“ Und genau dafür nutzt er Sprache und Geschichten, alle grammatikalischen Zeit- und Erzähl-Möglichkeiten als „gefährliche Waffe“, als „einzige Waffe, über die unser Bewußtsein verfügt.“ Sehr grob interpretiert, sagt Kluge hier: Wir können uns mit Hilfe von Eigensinn und erzählten Geschichten selbst eine Zukunft schaffen! Eine, in der wir es „aushalten“ können. Für Menschen, die eigensinnig und biografisch schreiben wollen, ist das ein fast schon explosiver Tipp. Wer mehr darüber wissen will, dem lege ich „Mein Kompass ist der Eigensinn“ ans Herz. Übrigens: Mit der letzten Passagen habe ich mich selbst zitiert. Die stammt aus eben diesem Buch.