Profilbild von stefanie aus frei

stefanie aus frei

Posted on 19.1.2021

Homo Homini Lupus Das autobiographische Buch entstand aus den Aufzeichungen zwischen dem 20.4. und 22.06.1945 und beschreibt das Leben der namentlich nicht genannten Autorin im Berlin der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegstage. Es wurde 1954 in englischer Sprache und erst 1959 in Deutschland veröffentlicht, wo es heftige Ablehnung hervorrief. Daher hatte die Autorin jegliche weitere Publikation zu ihren Lebzeiten wie auch die Nennung ihres Namens untersagt. Somit wurde https://de.wikipedia.org/wiki/Marta_H... erst postum berühmt. Berlin – die Front rückt näher. Angst macht sich breit vor dem, was kommt. Die Tagebuchschreiberin war vor dem Krieg weitgereist, ist belesen, arbeitete journalistisch und als Fotografin. Ausgebombt lebt sie in der Wohnung eines früheren Kollegen. Hunger plagt die Menschen und die Suche nach Verwertbarem. „Jetzt gehört alles allen. Man ist nur noch lose mit den Dingen verbunden, unterscheidet nicht mehr klar zwischen eigenem und fremdem Besitz.“ S. 7 In der Öffentlichkeit häufen sich Geschichten über Vergewaltigungen, eine Flucht gen Westen wird dennoch von der Autorin ausgeschlossen, um nicht beschossen zu werden oder unterwegs zu verhungern. Komisch sind die Beschreibungen der Situation im Schutzkeller "Mir gegenüber, in Decken eingewickelt, ein fiebrig schwitzender älterer Herr, Kaufmann von Beruf. Ihm zu Seite seine Gattin, die hamburgisch s-pitz s-pricht, und die achtzehnjährige Tochter, ausgerechnet S-tinchen gerufen.“ S. 12 Die Lage ist ernst: Der erste Deserteur erscheint im Keller. Ein als Verräter aufgeknüpfter Soldat. Eine Beerdigung im Besenschrank. Die Mutter eines 8 Wochen alten Säuglings hat keine Milch mehr. Anonyma ist präzise Beschreiberin der Situation. „Sonderbare Zeit. Man erlebt Geschichte aus erster Hand, Dinge, von denen später zu singen und zu sagen sein wird. Doch in der Nähe lösen sie sich in Bürden und Ängste auf. Geschichte ist sehr lästig.“ S. 20 Dann kommen die gefürchteten Russen. Es bleibt zuerst friedlich. Die Tagebuchschreiberin wirft ihre geringen Russischkenntnisse in die Wagschale, wird dadurch exponiert, oft bei Problemen herangezogen. Es schützt sie nicht vor Vergewaltigungen. Die Grenzen verschwimmen, bald schreibt sie von „Essen anschlafen“, sucht gezielt nach einem Offizier: „Hier muss ein Wolf her, der mir die Wölfe vom Leib hält“ S. 58. Lakonisch reichen sich die Frauen zwischendurch die Dose mit Vaseline weiter. Und die wenigen Männer? Sie tun fast nie etwas für die Frauen. Sie profitieren vom erhaltenen Essen, ignorieren, unter welchen Bedingungen es von den Russen gebracht wurde. Sie schauen weg. Sie fordern Opfer zum Wohle aller. Für den „Schändungszynismus“ finden sie keinen Umgang. Und Anonyma verliert generell die Achtung. Warum dieses Buch bei der Erstveröffentlichung so abgelehnt wurde als „Beschmutzung der Ehre der deutschen Frau“, kann ich mir nur erklären mit einer Entlarvung der Männer, die vorher hübsch weggesehen hatten. Das Buch macht die Nöte der Frauen klar, die nur selten die Wahl hatten – Gewalt oder Zwangsprostitution, oder seltener ein Versteck, wenn es denn jemanden gab, der für die Versorgung einstand. Allerdings muss ich selbst dazu sagen, dass die Opfer unter der Zivilbevölkerung, vornehmlich der Frauen, lange Zeit kein Thema waren. Noch aus den 80er Jahren kannte ich das Thema der systematischen Massenvergewaltigungen durch die Siegermächte nicht. Auch, dass es bei weitem nicht nur Täter aus der Sowjetunion, sondern auch bei den West-Alliierten gab, hat dann nochmals etwas länger gebraucht, um den Weg in die Öffentlichkeit zu finden. https://de.wikipedia.org/wiki/Sexuell... - zu der Zeit gab es dann durchaus oft auch die Meinung, dass diese Gewalt aufgrund der deutschen Taten gerechtfertigt gewesen sein. Marta Hillers ist hier differenzierter, erkennt die Unterschiede zwischen einfachen Soldaten und Gebildeten, zwischen überzeugten Kommunisten, halben Kindern, Verliebten, Ehrenmännern und Demütigern, in einer Tiefe, die mich zur Hochachtung zwingt. Russenhass kann ich nicht erkennen, dafür aber Einsicht in kulturelle Unterschiede. Mich hat der nüchterne analysierende Stil beeindruckt, dem alles Reißerische fehlt. „Erstarrung. Nicht Ekel, bloß Kälte. Das Rückgrat gefriert, eisige Schwindel kreisen um den Hinterkopf. Ich fühle mich gleiten und fallen, tief, durch die Kissen und die Dielen hindurch. In den Boden versinken – so ist das also.“ Was mich einzig stört an fast allen diesen Berichten: sie handeln fast ausschließlich in den Großstädten oder auf der Flucht. Ich konnte früher die Berichte meiner Großmutter, Jahrgang 1918, nicht damit in Einklang bringen: Verdunklung ja, Bombenabwürfe nein, Knappheit ja, Hunger nein. Wie sie, wohnten viele Menschen ländlich, hatten Gärten zum Anbau, in Kleinstädten und Dörfern fernab von Industrie oder irgendetwas, das sich zu bombardieren angeboten hätte. Diese Realität fehlt in der Breite der Publikationen – das kann man aber natürlich nicht der Autorin anlasten. Eindrucksvoll. 5 Sterne.

zurück nach oben