letterrausch
Jessica Vye ist zwölf und eigentlich ein ganz normaler Teenager: Sie eckt ständig in der Schule an, ihre Eltern hören ihr nicht zu, sie ist von ihrem kleinen Bruder genervt, sie lernt einen Jungen kennen und sie will Schriftstellerin werden. Außerdem ist sie die Protagonistin von Jane Gardams erstem Roman „Weit weg von Verona“ - und das ist es, was sie besonders macht. Jane Gardam fand ja erst spät ihre deutsche Leserschaft, doch seit ein paar Jahren wird nachgeholt, was bisher versäumt worden ist. „Weit weg von Verona“ zum Beispiel ist Jane Gardams Debutroman von 1971 und hat unter anderem einen Kinderbuchpreis gewonnen. Ist es also ein Kinderbuch? Die Antwort darauf ist ein klares Jein. Es gibt wohl eine jugendliche Heldin, die als Ich-Erzählerin durch den Roman führt und mit deren kleinen und großen Dramen wir mitfühlen. Da fühlen sich jugendliche Leserinnen sicherlich im Besonderen angesprochen. Doch auch die „alten“ Leser waren ja mal jung. Da macht es gar nichts, dass der Roman während des Zweiten Weltkriegs in einer englischen Küstenstadt spielt. Die Gedankenwelt eines Teenagers ist 1940 kaum anders als 2020. Es passiert eigentlich nicht viel in diesem Roman. Der Ort des Geschehens scheint von allen guten Geistern verlassen – die Männer zumindest sind zum größten Teil im Krieg. Die Frauen versuchen, die verbliebene Familie mit Lebensmittelmarken über Wasser zu halten. Jessicas Leben pendelt zwischen dem Haus ihrer Familie und ihrer Schule, in der sie nicht sonderlich beliebt ist. In dieses langweilige Einerlei dringt der Krieg regelmäßig in Form von Fliegeralarm oder (versehentlichen) Bombenangriffen ein. Und auch wenn das für Jessica traumatisch ist, so ist sie doch – eben ganz Teenager – hauptsächlich mit ihrer Innenwelt beschäftigt. Obwohl um sie herum ganz viel passieren (muss), behandelt der Roman nur eine ganz enge Lebenswirklichkeit. Jessica scheint losgelöst von der großen weiten Welt und vollkommen auf sich zurückgeworfen. Und aus diesem Grund ist „Weit weg von Verona“ auch für erwachsene Leser von Interesse: Jane Gardam ist einfach eine wunderbare Schriftstellerin. Sie schreibt mit so viel Esprit, so leichtfüßig und unterhaltsam, dass man gar nicht dazu kommt, sich über die Handlungsarmut zu wundern. Sie macht aus Jessica eine scharfsinnige und schwarzüngige Beobachterin, der man gern sein Ohr leiht. Und doch ist der Ton ein wenig anders als in ihren anderen Romanen. Vielleicht liegt es an der Innenperspektive der jungen Heldin, vielleicht aber auch am Debutroman. Ich konnte mich jedenfalls des Eindrucks nicht erwehren, dass sich ganz viele Ideen und Formulierungen in ihr aufgestaut hatten, die in diesem ersten Romanversuch einfach ans Tageslicht mussten. Manchmal sprüht sie nur so vor überraschenden Adjektiven, die einer Formulierung den besonderen Dreh geben. Eine Leseempfehlung für Alt und Jung!