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Buchdoktor

Posted on 12.1.2021

Kermin Radmanovic stammt aus einem serbischen Dorf in Kroatien und hat ein ungewöhnlich inniges Verhältnis zur Funktechnik. Folgerichtig wird sein erstes Kind (das 1975 während eines Stromausfalls in New Jersey geboren wird) Radar getauft. Das Baby weißer Eltern ist schwarz – und muss auf der Suche nach der Ursache schon in seinen ersten Lebensjahren einen Ärztemarathon ohnegleichen über sich ergehen lassen. Mutter Charlene widmet ihr Leben fortan der Erforschung der „Hyperpigmentierung“ ihres Sohnes; dabei schreckt sie nicht davor zurück, ihr Kind von Scharlatanen behandeln zu lassen. Ihre Besessenheit führt die ganze Familie bis nach Kirkenes im hohen Norden Norwegens. Vater Kermin (Nein, der Mann heißt nicht Kermit) floh 30 Jahre zuvor mit seinem Vater aus Jugoslawien und später an Bord eines 10-Meter-Bootes über Norwegen in die USA. Während des Zweiten Weltkriegs hat Kermin gelernt, dass man Uniformen besser nicht traut; denn sie sind austauschbar. Identität hält er für eine wackelige Konstruktion. Rasse oder Religion sind nur Äußerlichkeiten; allein die Familie kann einem Menschen Rückhalt geben. Im konfliktträchtigen Gemisch aus Völkern und Religionen beginnt in Jugoslawien (auch im Jahr 1975) die fast manische Faszination eines Jungen für mechanische Puppen und öffentliche Auftritte mit einem Figurentheater. In der Gegenwart in New Jersey wächst Radar - wenig überraschend nach seiner ungewöhnlichen Kindheit - zu einem menschenscheuen Sonderling heran, der als Erwachsener bei einem Radiosender arbeiten wird. An seinem Arbeitsplatz in den Meadowlands wird Radar mit einem gigantischen Blackout konfrontiert, einer Mischung aus fortgeschrittenem physikalischem Lausbubenstreich und postapokalyptischem Szenario. Sonderling ist der junge Mann auf verschiedene Weise, aufgrund seiner Herkunft, seines Aussehens und einer Inselbegabung, die schlicht auf die manische Neigung seines Vaters zur Physik zurückzuführen sein könnte. Wer könnte in einer postapokalyptischen Extremsituation nützlicher sein als Radar, ein Maschinenflüsterer mit Händchen für alles, das einen Stecker hat. Ein virtuoser Handlungsbogen führt weiter nach Kambodscha im Jahr 1953, wo auf einer Kautschuk-Plantage Raksmey, ein ungewöhnlich begabtes Findelkind aufwächst, das wiederum eine besondere Beziehung zur Elektrizität entwickelt. Dieser Sprung wirkt völlig plausibel, hat doch in Südostasien das Puppenspiel eine lange Tradition. Weiter geht es auf der Suche nach einer Ursache für den Blackout in den Meadowlands schließlich bis in den Kongo. Reif Larsens zweiter Roman widersetzt sich jedem Versuch, seinen Inhalt kurz zusammenzufassen. Hier geht es u. a. um Krieg, Auswanderung, Extremismus, Fremdenfeindlichkeit, Sonderbegabungen an der Grenze zum Autismus, Quantenelektronik und Teilchenphysik. Der Bereich des Puppenbaus und Puppenspiels huldigt Opposition, Umsturz und dem Querdenken; denn Puppenspieler können völlig unverdächtig politische Grenzen überschreiten und dabei als Spione oder Revolutionäre aktiv sein. Larsen arbeitet mit allen erzählerischen Kniffen. Seine Sprache bleibt in der deutschen Übersetzung originell und erfinderisch. Verschachtelt eingeschobene Erzählungen aus zweiter Hand lassen einzelne Teile des Texts fiktiver wirken als andere Passagen; Fußnoten wecken beim Leser parallel dazu Zweifel am Erzählten. Larsens schräge Vögel fand ich überraschend liebenswert. „Die Rettung des Horizonts“ hat auf mich als Wunder an Exzentrik gewirkt, zugleich als Loblied auf Sonderlinge aller möglichen Ausprägungen. Größenwahnsinnig genial. ----- Zitat "Charlene war eine unersättliche, geradezu manische Leserin, und ihr Mansardenzimmer hatte sich so rasch mit Büchern gefüllt, dass sie das Haus zu überschwemmen drohten. Ihre Mutter Louise, die Englischlehrerin, ahnte das bibliographische Chaos voraus, das sich über ihren Köpfen anbahnte. Sie warnte ihre jüngere Tochter vor den Gefahren der Unordung. „Was man nicht findet“, sagte sie, “ist, als ob es nicht existiert.“ (Seite 54)

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