Babscha
Es ist reinster Zufall und nur eine Laune des Schicksals, dass Lydia Perez Delgado und ihr achtjähriger Sohn Luca das Massaker auf der Grillparty der Großmutter überleben, auf der eine Todesschwadron des mächtigsten Verbrecherkartells Acapulcos ihre gesamte sechzehnköpfige Familie auslöscht. Und sie kennt auch den Grund hierfür, denn diese drakonische Vergeltung wurde ihrem Ehemann Sebastian, Reporter der örtlichen Presse, seitens des Clanchefs Javier Fuentes angedroht, falls dieser seine wiederholten Berichte über die Gräueltaten der landesweit operierenden Bande nicht stoppt. Der Leser erfährt, dass zu allem Unglück auch genau dieser Mann, Javier, in der Vergangenheit versucht hatte, die Zuneigung der unwissenden Lydia durch häufige Besuche in deren kleiner Buchhandlung durch sein dortiges Auftreten als literaturliebender Feingeist zu gewinnen und nun alles daran setzen wird, auch noch das Leben von Mutter und Sohn zu beenden, zumal Lydia sich vollständig von ihm abgewandt hatte, als sie erfuhr, mit wem sie hier verkehrte. Noch vollständig geschockt und traumatisiert durch das Geschehen, sieht sie keine andere Chance, als alles zurück zu lassen und sofort irgendwie zu versuchen, sich und ihren Sohn zu retten und außer Landes zu bringen. Dieses Szenario ist die Ausgangslage des Buches mit einer schier unglaublichen Fluchtstory durch ein ganzes Land Richtung Norden mit dem Ziel, irgendwie in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Das Buch hat mich hellauf begeistert, nein, geradezu umgehauen und von der ersten bis zur letzten Seite gepackt. Die Autorin, selbst US-Bürgerin mit extremen rassistischen Gewalterfahrungen in der eigenen Familie, hat sich lt. ihrem Nachwort zum Buch vier Jahre lang intensiv mit der nach wie vor aktuellen Thematik der Migration verfolgter Menschen aus Mittel- und Südamerika über die mexikanische Grenze in die USA beschäftigt und die fiktive Geschichte ihrer beiden Protagonisten damit ganz nah an der Realität gebaut. Die gesellschaftlichen Zustände in Mexico, wo Drogenkartelle und Banden mit Spitzeln an allen Ecken das gesamte Land kontrollieren und terrorisieren, wo Menschenleben nichts zählen, die Gewalt regiert und jeder in tödlicher Gefahr ist, der sich ihnen in den Weg stellt oder die immer und überall fälligen Schutzgelder, „Transfergebühren“ usw. nicht zahlt, wird hier schonungslos thematisiert und angeprangert. Wobei Justiz und Policia in ihrer Statistenrolle bei dem Ganzen entweder machtlos wegschauen oder sogar selbst mitmischen. Die Geschichte steigt sofort voll ein, treibt rasant nach vorne und man bleibt atemlos wie selten ganz dicht dran an Mutter und Sohn, deren Vorgeschichte und besondere Persönlichkeiten in vielen eingeschobenen Rückblenden erzählt und transparent gemacht werden. Und an den sonstigen Personen, auf die sie auf ihrem Weg treffen und mit denen sie zu einer zufälligen Schicksalsgemeinschaft verschmelzen. Wie die beiden Getriebenen in einem Spagat aus schrecklicher Angst vor ihren Verfolgern und absolutem Überlebenswillen auf ihrer Odyssee über sich hinauswachsen ist absolut mitreißend. Genauso wie die immer wieder in einer tollen, bildhaften Sprache eingestreuten kleinen Momente und Inseln, in denen sich Menschlichkeit, Anstand und Herzenswärme gegen die alles überlagernde Angst, Gefahr und die Grausamkeit der Mächtigen stellt. Ein so völlig unerwartetes, absolutes Lesehighlight dieses Jahres, das unbedingte Beachtung und Wertschätzung verdient.