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cosima73

Posted on 12.1.2021

Nein, angemessen auf das Masslose zu reagieren, das war unmöglich. Und wer das von den Opfern verlangt, der müsste auch von dem an den Strand geworfenen Fisch verlangen, dass er sich prompt Beine wachsen lasse, um in sein feuchtes Element zurückzuspazieren. (Günther Anders, Wir Eichmannsöhne) Vicente Rosenberg, ein polnischer Jude, welcher im ersten Weltkrieg tapfer für sein Land kämpfte, beschliesst im Jahr 1928, dieses zu verlassen und mit seinem Freund nach Argentinien auszuwandern. Das Leben ist schön. Vicente hält sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, lernt seine Traumfrau kennen, heiratet, Kinder kommen. Als liebevoller Vater, gut eingebundener Freund und durch den Schwiegervater zu einem Möbelhaus gekommener Geschäftsmann geht er durch die Tage und Jahre. Polen ist weit weg, irgendwie vergessen – damit auch seine Familie da. Dann und wann nagt ein schlechtes Gewissen, er schreibt halbherzig Briefe und fordert die Mutter auf, auch nach Argentinien zu kommen zumal sich die Lage in Europa zuspitzt, Krieg ausbricht, die Juden mehr und mehr unter Druck sind. Irgendwann ist es zu spät, an ein Ausreisen ist nicht mehr zu denken. Die Briefe der Mutter kommen spärlicher, in Vicente regt sich immer mehr das Gewissen und Fragen stellen sich: Wer ist er eigentlich? Pole? Argentinier? Jude? Nie hatte er sich als Jude gefühlt, diese Identität war ihm erst durch die Nazis auferlegt worden. Wie alle Juden hatte Vicente geglaubt, vieles zu sein, bis die Nazis ihm zeigten, dass ihn tatsächlich nur eines charakterisierte: sein Jüdischsein. […] Wie viele Juden verstand Vicente allmöhlich, dass der Antisemitismus Semiten braucht, um existieren zu können, er begriff allmählich, dass ein Antisemit, der sich als solcher definiert, nicht dulden kann, dass ein Semit sich nicht selber so definiert. Vicente zieht sich immer mehr zurück. Von allen Nachrichten, von seinen Freunden, von seiner Familie – und am Schluss von der Sprache. Er schweigt. „Kein Ort zu fern“ ist ein Buch über Identität, über Krieg, über den Umgang mit eigenem Leid, mit Schuld und mit dem eigenen Überleben, wenn andere sterben. Es ist ein Buch, das in die Tiefe geht, das Fragen stellt, wo es keine Antworten mehr gibt. Was soll man noch sagen im Angesicht des Unaussprechlichen? Was kann man sich noch vorstellen, wenn die Welt unvorstellbar und grausam wurde? Was ist ein Leben wert? Und darf einer ein Leben haben, wenn der andere es verliert? Und: Es ist eine wahre Geschichte, es ist die Geschichte von Santiago Amigorenas Grossvater. Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich begonnen zu schreiben, um das Schweigen zu bekämpfen, an dem ich seit meiner Geburt fast ersticke. Die Seiten, die Sie hier in Händen halten, liegen diesem mehrteiligen literarischen Projekt zugrunde. Zu sagen, es sein ein wunderbares Buch, wäre zwar insofern richtig, als es tief geht, berührt, bewegt, gefühlvoll geschrieben ist, ohne weinerlich, psychologisierend oder moralisch zu werden. Da das Thema des Buches aber so aufwühlend, so verstörend ist, indem es die dunkelsten Zeiten der Vergangenheit, die grausamsten Seiten des Menschseins aufzeigt, wäre das Wort irreführend. Es bleibt zu sagen, dass es ein Buch ist, das von der ersten bis zur letzten Seite mitreisst und anregt – zum Denken, Hinterfragen, Mitfühlen. Fazit: Ein tiefes, bewegendes, mitreissendes Buch, das zum nachdenken, weiterdenken, sich und das Leben hinterfragen anregt. Sehr empfehlenswert.

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