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joberlin

Posted on 12.1.2021

Julian Barnes neues Buch führt uns ins Paris der Jahrhundertwende, der sogenannten Belle Époque. Hier lernen wir den Gynäkologen/Chirurgen Dr. Samuel Pozzi kennen und ja - er ist der Mann auf dem Titelbild, er ist der Mann im roten Rock. Zu sehen ist ein noch junger und vor allem schöner Mann, das Bild lässt unwillkürlich an die beaux hommes des Luchino Visconti denken. Julian Barnes hatte dieses Bild "Dr Pozzi at home" von John Singer Sargent, dem Prominentenmaler dieser Zeit, auf einer Ausstellung gesehen, war fasziniert und fing an zu recherchieren. Er sagt dazu: "Mich zog das Porträt von Sargent zu Dr. Pozzi an, ich wurde neugierig auf sein Leben und Werk, schrieb dieses Buch und halte das Bild noch immer für ein wahres und elegantes Abbild." Barnes erarbeitete nun eine exzellente Lebensdarstellung dieses wohlhabenden Modearztes und vorausblickenden Wissenschaftlers, dieses Frauenverstehers und Büchersammlers; viele Schriftsteller, Künstler, Schauspieler, Politiker des Fin de Siécle sind mit dabei. Ob nun Sarah Bernhardt, Marcel Proust, Èmile Zola, Joris-Karl Huysmans oder der Kunstsammler und Dichter Robert Montesquiou - Pozzi war ihnen Freund und kultivierter Gesprächspartner. Allesamt könnte man modern als Europäer bezeichnen, ob sie sich so gesehen haben, bleibt dahingestellt. Jedenfalls war man in diesen feingeistigen Kreisen hochgebildet, mehrsprachig - französisch, englisch, deutsch gehörten auf jeden Fall dazu. Und wenn auch die Zeitbezeichnungen Fin de Siécle und Belle Époque französische Begriffe sind und sicher auch ein spezielles französisches Lebensgefühl ausdrücken, können sie doch als gesamteuropäische Bezeichnung der Befindlichkeit vor dem ersten Weltkrieg gelten. Schließlich wurde Paris als die bestimmende Hauptstadt Europas gesehen mit ihrer Kunst, Mode, Literatur und Wissenschaft. Die Jahrzehnte um den Jahrhundertwechsel werden zum einen in Zusammenhang mit dem kommenden Aufbruch in die Moderne gebracht, allerdings werden sie genau so oft auch mit Dekadenz und nahendem Verfall gesehen. Letzteres verweist auf Julian Barnes Sorge um den Zerfall des alten Europa, ein dünnes Süppchenkochen in kleinlicher Vielstaaterei mit starrem Beharren auf nationalen Eigenheiten – sieht so unsere Zukunft aus? Oder schaffen wir es europäisch zu denken, zu leben und zu genießen, wie eben Dr. Pozzi bereits vor hundert Jahren? Der rote Mantel sollte uns Anregung und Startzeichen dazu sein. Fazit: Das Buch ist sehr gut geschrieben, amüsant-interessant zu lesen und das liegt auch an Gertraude Kruegers hervorragender Übersetzung. Julian Barnes hat eine Vielzahl von Fotos eingefügt, überwiegend handelt es sich um damals populäre Schokoladen-Sammelbilder der Firma Félix Potin, die hier durchaus der besseren Einsicht nutzen. Es soll jedoch auch angemerkt sein, dass die Lektüre nicht ganz einfach ist und geübte Leser/Leserinnen erfordert, damit Exkurse und Details richtig aufgenommen werden können.

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