Buchdoktor
Eva Mozes Kor hat ein bemerkenswertes Jugendbuch geschrieben über ihr Schicksal als Opfer Josef Mengeles und seiner medizinischen Versuche an Zwillingspaaren im KZ Auschwitz. In Deutschland ist die Autorin seit ihrer – umstrittenen - Begegnung mit Mengeles Mitarbeiter Dr. Münch (1995) und ihrer Teilnahme am Prozess gegen Oskar Gröning (2015) bekannt geworden. „Die Macht des Vergebens“ ist ihr Vermächtnis an die nachfolgenden Generationen und eine couragierte Auseinandersetzung mit der Kritik an ihren Versöhnungsbestrebungen gegenüber den Tätern. Mozes Kor erzählt zuerst von ihrer Selektion in Auschwitz für Mengeles Menschenversuche, ihrem unbedingten Überlebenswillen und dem Halt, den die erst 10-jährigen Mädchen aneinander fanden. Geplant war, dass jeweils ein Kind eines Zwillingspaars an den injizierten Krankheitserregern stirbt, das zweite Kind getötet wird und beide seziert werden. Eva überlebt - von Mengele unerwartet - die Tortur und rettet damit zugleich ihrer Schwester Miriam das Leben. Die Rückkehr nach Rumänien nach der Befreiung des KZs durch die Russische Armee, ihre Auswanderung nach Israel, Heirat mit dem ebenfalls aus dem KZ befreiten Michael Kor und Übersiedlung in die USA sind die weiteren Schritte auf ihrem Lebensweg. Ihren Kindern erklärt Mozes Kor offen die auf ihren Arm tätowierte Häftlingsnummer und warum die Kinder keine Großeltern haben. Doch erst als 1978 in den USA die Fernsehserie Holocaust ausgestrahlt wird, kann sie gegenüber Nachbarn und Bekannten ihre Rolle als schwierige Ausländerin ablegen, die sich vor lauten Halloween-Streichen fürchtet. Mit bewundernswerter Energie vollzieht Eva Mozes Kor den Schritt aus ihrer Opferrolle zur Überlebenden. Sie beginnt ein zweites Leben als Zeitzeugin des Nationalsozialismus, tritt als Referentin auf und leitet ein Museum in ihrem Heimatort. Das kleine Mädchen vom Foto der Befreiung des Lagers Auschwitz ist zur öffentlichen Person geworden. Dieser zweite Teil des Buches hat mir am stärksten imponiert. Er verdeutlicht, dass das bloße Überleben von Mengeles Metzeleien nicht genügt, sondern dass die Überlebenden ihre Erlebnisse verarbeiten und der nachfolgenden Generation davon berichten müssen. Michael Kor hat niemals über seine KZ-Haft gesprochen – bis der Besuch einer Schulklasse im Museum auch bei ihm das Eis bricht. Eva muss sich auch mit dem frühen Tod ihrer Schwester Miriam aussöhnen, die vermutlich als Erwachsene sterben musste, weil ihren behandelnden Ärzten die Akten der Menschenversuche nicht zugänglich waren. Der dritte Teil umfasst Kors Treffen mit Dr. Münch und mit Oskar Göring in Deutschland. Hier wird deutlich, dass Vergebung eine aktive Handlung ist, aber auch Teil des Respekts gegenüber sich selbst, eine Einsicht, zu der die Angehörigen Überlebender im Gröning-Prozess noch nicht gekommen sind. Auch für die Kinder von Überlebenden, die nicht über ihr Schicksal sprechen, ist dieses beeindruckende Buch geschrieben worden.