Buchdoktor
David Foenkinos erzählt die Geschichte der 80-jährigen Witwe Madeleine Pick und des Bibliothekars Jean-Pierre Gourvec, die am äußersten westlichen Zipfel Europas auf der Halbinsel Crozon leben. Madeleine hat jahrelang gemeinsam mit ihrem Mann eine Pizzeria betrieben, Jean-Pierre in seiner kleinen Bücherei einen Zufluchtsort für abgelehnte Manuskripte angelegt. Als dritte in einem größeren Bund handelnder Personen tritt Delphine Despero auf, die aus Morgat/Crozon stammt und in Paris als Lektorin arbeitet. Während eines Besuchs bei ihren Eltern erfährt Delphine von Jean-Pierres Sammlung verschmähter Manuskripte und entdeckt, dass Henri, genau der Henri aus der Pizzeria, ein Buch geschrieben haben muss. Niemand kann sich erinnern, Henri je lesen oder schreiben gesehen zu haben – und doch muss er irgendwann die Zeit dazu gefunden haben. Delphins Lektorengehirn rattert sofort los, den Verkauf der Filmrechte sieht sie schon vor Augen. Doch noch schweigt sie eisern über ihre Entdeckung. Sogar ein Journalist taucht auf, der die Geschichte von Henris geheim gehaltener Leidenschaft vermarkten will. Für Madeleine ist der Hype um ihren Mann eine zweischneidige Angelegenheit, hatte sie sich doch gerade an das Alleinsein gewöhnt. Eine Fülle von Personen tritt nun auf, eingefahrene Beziehungen bröckeln, alte Lieben werden wiederentdeckt. Allmählich könnte man annehmen, dass so mancher Einwohner von Crozon Henri sein stilles Vergnügen neidet und auf das Buch eifersüchtig wird. Ein Gespräch zwischen Delphine und einem Journalisten bringt einen als Leser auf die Idee, dass ein Text keine Rolle mehr spielt, sobald nur ein Hype erzeugt wurde und seine Vermarktung angelaufen ist. Eine Reihe weiterer spöttischer Gedanken zum Literaturbetrieb sind im Roman zu finden. Selbst die Figur der Delphine könnte als ironische Anmerkung gesehen werden. Sie scheint mit ihrer wohlgesetzten, ziselierten Sprache aus einer anderen Epoche gefallen zu sein – und liebt dennoch ihren ebook-Reader. Faszinierend fand ich das Thema der Muße und des Nichtstuns in Foenkinos Roman. Hier wird, ganz klassisch, ausgiebig gelesen und miteinander geredet. Damit Geschichten entstehen können, muss man seine Gedanken frei schweifen lassen – doch wer nimmt sich heute dazu noch die Zeit? Wie auf dem zentralen Platz in einer Stadt, auf dem sich Wege unterschiedlichster Menschen kreuzen, verknüpft Foenkinos die Schicksale seiner Figuren lose miteinander. Sein Focus liegt auf den Einzelpersonen – diese mosaikartige Art zu schreiben muss man mögen. Hinter vordergründig liebevollen Beschreibungen versteckt sich eine gehörige Prise Ironie. Französische Romane werden gern als bezaubernd bezeichnet. „Das geheime Leben des Monsieur Pick“ halte ich für einen komplex angelegten Roman über das Schreiben, der hinter dieses Bezaubernde blickt, Urlaubsgefühle wecken kann und mit der Tatsache spielt, dass im Literaturbetrieb eine Story hinter der Story oft wichtiger zu sein scheint als ein Buch selbst.