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Buchdoktor

Posted on 7.1.2021

Alice Munros Geschichten wirken nur auf den ersten Blick wie Familien-Anekdoten, denen Kinder schon immer begierig lauschten. Geschichten, die nur selbst erlebt sein können und später von Generation zu Generation weitergegeben werden, ohne ihre zeitlose Gültigkeit dabei zu verlieren. Sie zeigen die Welt aus der Sicht von Frauen, deren Platz vor schätzungsweise 60 Jahren noch fest vorgeschrieben war. Mit dem Vorbild der Mutter, die sich auf einer Farm oder in einem Laden abrackert, können Mädchen sich entweder zum Tanz auffordern lassen und der Rolle der Mutter nacheifern oder eine alte Jungfer werden wie die Klavierlehrerin Miss Marsalles, deren alljährliches Sommerfest für ihre Schülerinnen dem Erzählband Munros den Titel gab. Verbunden sind die Geschichten zum Teil durch die Erzählperspektive von Mädchen an der Grenze zur Pubertät, das sinnlichen Erfahren heißer Sommertage und durch die Suche der Figuren nach einem eigenen Platz in der Welt der kanadischen Provinz. Die Farmen sind hier so farblos, dass sie ungeeignet sind, um auch nur Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst zu spielen, stellt die altkluge Erzählerin der ersten Geschichte fest, die die knappe Zeit genießt, die der Vater ohne den jüngeren Bruder mit ihr als der Älteren verbringt. In der Welt von Munros Figuren sprangen unverheiratete Cousinen noch tatkräftig ein, wenn Kranke zu pflegen waren. Die Pflege der an Parkinson erkrankten Mutter kann jedoch auch die latente Eifersucht zwischen zwei Schwestern zum Ausbruch bringen, von denen eine als maximal denkbaren Ausbruch wagte, ihren Heimatort zu verlassen und mit ihrer Familie in einer anderen Stadt zu leben. (Der Friede) In "Ausflug" stellt das Leben der Großmutter der jungen Erzählerin May die vorgegebene Rollenverteilung infrage. Die steinalte Oma, bei der das Mädchen lebt, betreibt einen Laden undverkündet stolz, dass sie weder krank war noch die Sorge anderer für sich in Anspruch genommen hat. Von Vätern, Ehemännern oder Söhnen ist in ihrem Lebensentwurf keine Rede. May kommt gerade in die Pubertät und soll in diesem Sommer nicht mehr mit den Jungen gemeinsam im Fluss baden. --- Textauszug "Während sie rechnete, meinte sie, ein Geräusch zu hören, als sei jemand auf dem Hof; ein wunderbares Unterfangen erfasste ihren Körper von den Fußsohlen her, so dass sie die Zehen krümmte und die Beine ausstreckte, bis sie das Ende der Couch erreichten. Ihr ganzer Körper fühlte sich an, wie sich ihr Kopf anfühlte, kurz bevor sie niesen musste. Sie stand so leise wie nur möglich auf und ging behutsam über die kahlen Bretter des Hinterzimmers, die unter ihren Füßen sandig federten, zum rauhen Küchenlinoleum. Sie hatte ein Baumwollnachthemd von Hazel an, das weich und geisterhaft um sie wallte." (S. 297/298) "Jungen und Mädchen" ragt für mich durch Munros Beobachtungsgabe für feine Zwischentöne aus ihren fein komponierten Erzählungen noch heraus. Die Icherzählerin denkt sich gern Geschichten von sich selbst als furchtloser Heldin aus. Sie lebt mit den Eltern und ihrem jüngeren Bruder auf einer Farm; der Vater züchtet Füchse, um die Pelze zu verkaufen. Mit dem Wissen, dass die Mutter die Gerüche beim Abpelzen der Füchse abstoßend findet, sucht dieses Exempel einer Vatertochter ihren Platz in der Familie bei der Farmarbeit. Die Arbeit außerhalb des Hauses erscheint ihr bedeutender als die Arbeit der Mutter. Obwohl das Mädchen den Haushalt hasst, wird ihre Arbeit auf der Farm mit dem Tag beendet sein, wenn ihr jüngerer Bruder Laird alt genug ist, um mit dem Vater zu arbeiten. Es genügt nicht fleißig und zuverlässig zu sein, ein Mädchen muss so werden, wie die Mutter es erwartet, vermittelt die Entthronung durch den Bruder. Auch in "Rotes Kleid" muss sich eine Tochter mit den Erwartungen der Mutter auseinandersetzen, die sich in dem sozialen Druck äußert, einen ansehnlichen Tanzpartner auf sich aufmerksam zu machen. --- Textauszug "Aber als ich die wartende Küche sah und meine Mutter in ihrem ausgeblichenen, fusseligen Paisley-Morgenrock mit ihrem müden, aber hartnäckig erwartungsvollen Gesicht, da verstand ich welch eine geheimnisvolle und bedrückende Pflicht ich hatte, glücklich zu sein, und dass ich bei dem Versuch, diese Pflicht zu erfüllen, beinahe gescheitert wäre und wahrscheinlich jedes Mal scheitern würde, ohne dass meine Mutter es ahnte." (S. 275). Mit dem Wissen aus Munros biografischen Erzählungen "Wozu wollen Sie das wissen? Elf Geschichten aus meiner Familie" lassen sich in ihrem ersten ins Deutsche übertragenen Kurzgeschichtenband (das englische Original erschien zuerst 1968) eine Reihe von biografischen Bezügen entdecken, die Munros Geschichten aus dem Leben durchschnittlicher Menschen in einem eigenen Licht erscheinen lassen.

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