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Buchdoktor

Posted on 7.1.2021

Im neu übersetzten Band (1986 bereits als Klett Cotta Ausgabe erschienen) zeigt Alice Munro pointiert das Frauenbild um 1980, der Entstehungszeit dieser Texte. Im Frauenbild scheint sich seit der Vorkriegszeit wenig verändert zu haben. Frauen erlebten sich damals noch als Besitz ihrer Ehemänner, die sie erst formten und erzogen und sich ihrer Geschöpfe wieder entledigten, wenn diese Erziehung nicht zu ihrer Zufriedenheit ausfiel. Das Motiv des Entledigens von einer alternden oder zu unabhängigen Frau durchzieht den gesamten Band. Der Zusammenhang zum Lebensentwurf der Autorin ist nicht zu übersehen, die selbst anderes im Leben erstrebte, als an Kaffeeeinladungen teilzunehmen. Der Zwang, sich ein für alle Mal zwischen Ehe und Berufstätigkeit plus Unabhängigkeit entscheiden zu müssen tritt hier zugleich mit dem Bild der unverheirateten Frau als „alte Jungfer“ auf. In „Die Chaddeleys und die Flemings“ bilden unverheiratete Schwestern und Kusinen in beiden Familienzweigen eine starke Hausmacht. Für die Erzählerin sind die Cousinen der Mutter das Fenster zu einer fernen Welt, in der die Tanten auf bewundernswerte Weise zurechtkommen. Die Mutter als einzige verheiratete Frau einer ganzen Generation könnte von der Mehrheit der Tanten durchaus zu bemitleiden sein. Ihre Ehe samt Pflicht zum Gehorsam und zur Arbeitsleistung für den Ehemann kann als Abstieg gesehen werden. In dieser Familie treffen Welten aufeinander, zwischen denen es nur wenig gemeinsame Gesprächsthemen gibt, mit dezent verborgenem Neid aufeinander unterlegt. Auch in „Bardon Bus“ geht es um das Thema der alternden unverheirateten Frau. In „Dulse“ sinniert die ungefähr 45-jährige Lektorin Lydia über ihre abnehmende Attraktivität für andere, verbunden mit Existenzängsten ihres Berufsstands. Ihr Partner fordert Anpassung, zu der sie nicht bereit zu sein scheint. Die Schuld für ihr Beziehungsproblem sucht Lydia in ihrem beruflichen Ehrgeiz. Wäre sie glücklicher, wenn sie nicht studiert und die elterliche Farm nie verlassen hätte? „Die Putensaison“ und „Unfall“ spielen in den 40ern, als bereits viele kanadische Männer im Zweiten Weltkrieg kämpften. Zwei betagte Freundinnen treten in „Mrs Cross und Mrs Kidd“ auf, die sich kennen, seit sie Kleiderschürzen und dicke Zöpfe trugen. Obwohl gesundheitlich angeschlagen, haben beide noch etwas in petto und zumindest eine geht dabei nicht unbedingt zartfühlend vor. Je oller, je doller. In der Einleitung (1985) äußert sich Alice Munro über das Erzählen als Teil ihrer selbst, der mit dem Abschluss einer Erzählung von ihr getrennt wird und sie damit befreit. Sie berichtet, dass sie in ihren Kurzgeschichten persönliche Erfahrungen und Beobachtungen mit biografischen Anteilen verknüpft. Alice Munros Produktivität überrascht mich immer wieder. Ihre feinsinnigen Beobachtungen des Alltags von Mädchen und Frauen drehen sich immer wieder um Liebe, Ehe und den profanen Lebensunterhalt. Auch nachdem ich die biografischen Bezüge zum Leben der Autorin entdeckt habe, werden mir Munros exakte Beschreibungen alltäglicher Ereignisse nie langweilig. Sie schreibt so überzeugend, weil sie die Menschen durchschaut, bevor ihre Figuren das selbst tun.

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