Buchdoktor
Die Autorinnen sind Muslimas zwischen 19 und 21 Jahren und in Norwegen bekannte Aktivistinnen zum Thema Negative Sozialkontrolle. Gemeint ist damit eine Kultur der Scham, in der Druck auf Mädchen ausgeübt wird, wie sie sich zu kleiden und zu benehmen hätten, damit Fremde nicht über ihre Familien tratschen und sie damit beschämen. Leck nicht an deinem Eis, zieh keinen Badeanzug an, benutze keinen Lippenstift, ein Mädchen braucht kein Privatleben. Die Liste der Ermahnungen ist lang, und sie kommen neuerdings direkt aufs Smartphone und in den sozialen Medien (siehe #dearsister). Auffällig ist dabei eine Symbiose, in der Mütter keine klare Ansage treffen, was sie selbst von ihren Kindern erwarten, und Töchter sich dem psychischen Druck beugen, die Ehre der Familie nicht zu beschmutzen. Die drei jungen Frauen legen graphisch mit einer Kurve der Scham ihre persönliche Entwicklung offen, von der Einschulung, über den Sportunterricht, die Begegnung mit männlichen Mitschülern, dem zunächst freiwilligen „Nehmen“ des Hijab, bis zu ersten Zweifeln und ihrer Wandlung als erwachsene Abiturientinnen und Studentinnen. Die Diskussion über die Macht der Scham verdeutlicht, wie stark die drei jungen Frauen davon geprägt sind, ständig ihr Aussehen zu reflektieren vor dem Hintergrund, besser und religiöser sein zu müssen als andere. Sehr deutlich wird hier gesagt, dass Normen islamischer Parallelgesellschaften - mit Hilfe männlicher Prediger - kleine Mädchen bereits im Kindergartenalter sexualisieren. Bewegend fand ich sowohl die Verdrängung der Erfahrungen einer kaum 20-Jährigen (die sich nicht erinnern kann, ob sie in der Grundschule Schwimmen hatte), als auch die deprimierende Erkenntnis einer 13-Jährigen, dass es für sie - anders als für norwegische Kinder - kein Erwachsenenleben geben wird, in dem sie finanziell unabhängig sein und selbst über sich entscheiden wird. Die Symbolik der Pfauenfeder vom Vorsatzpapier ist eng mit Sophias Biographie verbunden und erzählt eine ganz eigene Geschichte. Die Autorinnen werten den Begriff "schamlos" um, der sie als Mädchen disziplinieren sollte. Sie fürchten nicht mehr, für schamlos gehalten zu werden, sie wollen schamlos sein, d. h. sich nicht mehr schämen müssen für ein Verhalten, das außerhalb ihrer Parallelgesellschaften als normal gilt. Amina, deren Familie aus Somalia stammt, fährt sich im Gespräch wiederholt fest mit der Bezeichnung „bei uns“. Sie meint damit Somalia und Verwandte in Somalia, obwohl sie selbst in Norwegen lebt. Ihre Diskussionspartnerinnen fragen wiederholt nach, ob sie von ihrem norwegischen Heimatort spricht. Nein, Amina meint damit ein System sozialer Kontrolle, das bis in die Herkunftsländer reicht. Pubertierende Mädchen werden sogar in die Heimat der Eltern entführt, um sie „kulturell zu rehabilitieren“ und ihre Verwestlichung rückgängig zu machen. Erwachsenen Lesern wird hier in vielfältiger Weise die Beschränkung ihres westlichen Denkens deutlich, das bei Migranten zu häufig von einem vorhandenen Integrationswillen ausgeht. Auch wenn ich die drei Autorinnen in ihrem Buch als sehr offen und flexibel erlebe, fehlen mir bei ihnen eigene Visionen. In der Tratsch- und Denunziationskultur, unter der sie als Kinder gelitten haben, sind sie Teil des Problems und müssen sich selbst verändern. Der Traum von älteren Brüdern, die Freiheiten für ihre Schwestern erkämpfen, und die Forderung nach mehr Integrationshelfern an Schulen genügt mir ganz und gar nicht, solange die drei Ladys keine Ideen entwickeln, welche Mütter, Mentorinnen oder Ausbilderinnen sie einmal sein wollen und wie ihre Kinder später aufwachsen werden. Das Buch, das sich an Leserinnen (brown girls) ab 12 richtet, wechselt zwischen biographischen Abschnitten, Diskussionen, anonymen Berichten muslimischer Mädchen, die keinesfalls ihren Namen veröffentlicht sehen wollten, Briefen der erwachsenen Autorinnen an ihr Kindheits-Ich und sehr lebensfrohen ganzseitigen Fotos. Mit seinem Cover in Leinenstruktur, pinker Bauchbinde, Vorsatzpapier in Pfauenfeder-Optik und Mehrfarbendruck wirkt „Schamlos“ verschwenderisch elegant gestaltet. Es zeigt damit hohe Wertschätzung für die Leserin und hat einen Preis für feministische Buchgestaltung verdient. 12-Jährige als Zielgruppe finde ich zwar etwas früh angesetzt; wenn sie sich für die Ansichten von feministischen "brown girls" interessieren, sollten sie es jederzeit unbedingt lesen.