Lesen macht glücklich
Wütend machende Anklage Was für ein Debüt hat denn Deniz Ohde da bitte geschrieben? So reif geschrieben, reflektiert und genau, dass in mir während dem Lesen ein unangenehmes, flaues Gefühl auftrat und zum anderen Wut. Wut auf die Gesellschaft, die so etwas zulässt, Wut auf jeden Einzelnen, der es nicht merkt oder zumindest versucht zu verhindern. Übrig bleibt ein Buch wie eine Anklageschrift, die vor allem auf unsere achso gebildete bürgerliche Gesellschaft abzielt und diese mit dieser Geschichte absolut in die Mangel nimmt. Zu keiner Sekunde merkt man, dass man hier ein Debüt liest, zumindest erging es mir so. Aktuell steht dieses Buch auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020 und ich würde mir wünschen, dass dieses Buch gewinnt, um vielleicht damit Debatten anzustoßen, die immer noch überfällig sind, Stichwort PISA- Studie und gläserne Decke für Kinder aus Arbeiter- und/oder Einwandererfamilien. Die Schule, ein manchmal löchriges System Eingangs geht das Buch erstmal eher melancholisch los, als die namenlose Erzählerin nach Hause zurückkehrt, die Luft ihres Heimatortes einatmet, diese sich wie Säure in sie brennt, sobald man eine gewisse Schwelle übertritt. Zu Hause bei ihrem Vater angekommen, der allein in einem fast leeren Haus lebt, blickt die Erzählerin auf ein Leben zurück, geprägt vom Ort, von ihrer Herkunft als Kind von einem Deutschen und einer Türkin im Umfeld einer dem Ort prägenden Fabrik und von den Erfahrungen, die sie im schulischen System im Deutschland der 2000er Jahre machen durfte (musste). Auch im weiteren Verlauf, als sich die Geschichte mehr auf die schulischen Aspekte im Leben der Erzählerin konzentriert, ahnt man zwar, dass etwas kommt, was man gemeinhin als Bruch in der Biographie bezeichnet, aber so richtig wahrhaben will man es doch nicht. Gibt sich die Erzählerin doch reflektiert mit ihrem Leben und mit ihrer Leistung. Weiß, dass sie es kann. Ihr einziges Problem ist dabei, dass sie es alles hinnimmt, was man ihr vorsetzt. Sei es der trinkende Vater zu Hause, das die schulischen Leistungen von ihr abgetan werden, weil sie es doch mit ihrer vermeintlich ausländischen Herkunft gar nicht besser kann und so weiter. Ein lähmendes Entsetzen breitet sich aus, als das unvermeidliche eintritt und sie durch ihre Noten nicht weiter auf dem Gymnasium bleiben darf. Sie fällt durchs Raster und in ein Loch, aus dem sie sich in letzter Sekunde retten kann. Sie rappelt sich auf, holt ihr Abitur mit Bravour nach und ihr steht die Welt der Universität offen. Doch weiter als bis zum Schulabschluss hat sie nicht geplant. Was soll sie nun mit den Möglichkeiten anfangen? Das Rad scheint sich erneut zu drehen und sie mit einem scharfen Tempo wieder mit nach unten zu nehmen. Kann sich die Erzählerin aus dieser Starre befreien? Brüche in der Biographie oder die elende Frage nach dem Warum Was sich in diesem Roman von Deniz Ohde vor allem widerspiegelt sind zwei Dinge. Zum einen wie das, was einem die Eltern allein durch ihre Herkunft mitgeben, das eigene Leben prägt. Vor allem wird sich in diesem Roman auf die Schule und die Bildung konzentriert und genau da sind wir alle von den genannten Faktoren immens abhängig, wie es diese Geschichte deutlich zeigt. Sie legt mehr als eindringlich nahe, wenn man die richtige Hautfarbe, den richtigen kulturellen Hintergrund und aus dem richtigen Bildungsschichten kommt, dass man dann auch keine Steine in den Weg gelegt bekommt. Ist einer dieser Punkte nicht im Einklang mit dem Durchschnitt in Deutschland, stehen die Chancen schlechter, was bei der Hauptfigur und Erzählerin dieser Geschichte immens gespiegelt wird, denn sie kommt aus einem Elternhaus, bei der ein Teil zugewandert ist, der andere Teil aus der bildungsfernen Schicht und dies wird an dem jungen Mädchen/der jungen Frau sehr stark ausgelassen. Das macht einen beim Lesen hilflos, das macht einen beim Lesen wütend und dann wieder hilflos, weil man so wenig gegen solchen Unsinn ausrichten kann. Die Autorin findet dafür genau den richtigen Ton. Ohne uns Leser*innen ins Gesicht zu schreien und ohne zu übertreiben nimmt sie uns bei der Hand und zeigt anhand von diesem einen Fall, was alles schief laufen kann, wenn ein junger Mensch einfach hinten über fällt. Dabei ist die Erzählerin nicht mal selbst schuld, denn so richtig weiß sie gar nicht, wie ihr geschieht und ebenso ihrer Familie. Sie werden nicht ernst genommen und dann noch weggeschubst an den Rand, wo sie nach der Meinung einiger vermeintlich besseren Leute auch hingehören. Das dabei in der Erzählerin Talent steckt, wird von vielen übersehen. Und dann gibt es noch die zweite Ebene der Geschichte, die zwar ebenfalls die Bildung betrifft, aber auf dem umgekehrten Weg ebenso Steine in den Weg gelegt werden. Da hat sich die Erzählerin dann endlich aufgerappelt, kämpft sich wieder heran und wird dann wieder durch Ignoranz und Rechthaberei ausgebremst. Zum Glück hat sie da zu diesem Zeitpunkt ein Ziel vor Augen, was sie verbissen verfolgt und lässt sich dann nicht mehr von solchen Dingen aus dem Takt bringen. Dabei taucht dann immer wieder die Frage nach dem Warum auf. Diese eine Frage, die sich um den Bruch in der Biographie dreht. Hat man einen Grund, der allen gefällt, ist es perfekt. Hat man dagegen keinen oder kann den Finger nicht genau darauf legen, dann sind alle irritiert. Es muss immer alles einen Grund haben. Doch muss es das wirklich? Bildungskrater und prägende Ortschaften Der Autorin gelingt es wunderbar, die jeweiligen Jahrzehnte, in denen die Geschichte spielt, einzufangen. Zum einen die Achtziger und Neunziger, als die Erzählerin in einem Industriestandort bei Frankfurt aufwächst und dabei vor allem unter den Macken der Eltern zu leiden hat. Dann die 90er und Zweitausender Jahre, als bei der Erzählerin alles aus dem Takt gerät und sie auf Abstellgleise geschoben wird, von denen es eigentlich keine Wiederkehr geben kann. Die Autorin trifft den Ton perfekt, um die Jahre, die diese Geschichte ummanteln, in kurzen, prägenden Momenten festzuhalten und als Leser*in ist man sofort in diese Zeit zurück versetzt. Außerdem ist die Sprache ruhig gehalten, was das Innenleben der Hauptfigur ebenso perfekt trifft, wie die Beschreibungen der jeweiligen Zeit. Gerade diese phlegmatische Ruhe der Erzählerin ist an manchen Stellen unerträglich. Man möchte sie rütteln und ihr sagen, sie solle sich doch wehren. Doch die Frage ist doch, ob sie das überhaupt könnte oder ob es alles nur noch schlimmer machen würde beziehungsweise ob eine offenkundige Wut überhaupt einen Adressaten fände. In meinen Augen sind das die schlimmsten Szenen im Buch, wenn die Erzählerin oder auch ihre Eltern zutiefst gedemütigt werden und sie dabei eigentlich kaum eine Möglichkeit haben, sich zu wehren. An diesen Schnittstellen offenbaren sich riesige Krater, die unsere Bildungslandschaft damals wie heute haben. Es gilt nicht das Motto „Keiner wird zurückgelassen“ sondern vielmehr „soll doch jeder sehen wie er zurecht kommt“. Es legt den Finger in die offenen Wunden eines Bildungssystems, welches sich anmaßt, die vermeintlich besseren voran zu bringen, während die vermeintlich schlechteren einfach ignoriert beziehungsweise aktiv über den Rand geschoben werden. Aufrüttelnd, emotional, reif Dieses Buch ist wichtig und rüttelt gekonnt auf. Es steht in meinen Augen zurecht auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis (im Vergleich zu den zwanzig Nominierten in diesem Jahr – zu den vielen anderen Büchern, die es nicht dahin geschafft haben, kann ich mir keine Meinung bilden) und bekommt damit verdiente Aufmerksamkeit. Es wäre diesem Buch und der Autorin zu wünschen, dass es auch zum nächsten Schritt reicht. Es wäre zumindest eine Siegerin mit einem dringenden, zeitgenössischem Thema, denn gerade die Coronakrise und das damit verbundene Homeschooling haben erneut gezeigt, dass bei der Gleichheit der Bildungschancen in Deutschland noch immer ein weiter Weg vor uns liegt, auch wenn man zugeben muss, dass sich seit der ersten PISA- Studie viel getan hat. Doch es ist noch nicht genug.