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Buchdoktor

Posted on 7.1.2021

Pankaj Mishra vollzieht einen für das Verständnis islamischer und asiatischer Staaten notwendigen Blickwechsel auf die Weltgeschichte, stellt in biografischen Essays die für ihre Zeit ungewöhnlich fortschrittlichen Denker Dschamal ad-Din al Afghani (1838-1897) und Liang Qichao (1873-1929) vor und vermittelt eindringlich den Eindruck der Demütigung muslimischer Staaten durch "den Westen", der Grundlage des Verständnisses aktueller Konflikte zwischen westlichen und muslimischen Staaten ist. Wer sein Globusmodell in Bewegung setzt, um Geschichte einmal von der anderen Seite der Weltkugel aus zu betrachten, muss zwangsläufig aus anderer Perspektive urteilen. So ist für Pankaj Mishra nicht der Zweite Weltkrieg der prägende, "große" Krieg, sondern die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Japan und China (die zwischen 1937 bis 1945 allein 3,5 Millionen Tote forderten). Japans militärische Überlegenheit hatte nicht nur politische und militärische Bedeutung, sondern ebenso geistig-moralische. Aus dem Blickwinkel Asiens fand 1904 die entscheidende Seeschlacht von Tsushima zwischen Russland und Japan um die Herrschaft über Korea und die Mandschurei statt. Japans Sieg beendete die Unbesiegbarkeit "der Weißen" und führte zu einem Domino-Effekt, der schließlich auch das Selbstbewusstsein der muslimischen Länder Vorderasiens hob. Neben zahlreichen essayistischen Splittern zum Ost-West-Verhältnis konzentriert sich der gebürtige Nordinder Mishra auf zwei beispielhafte Denker und Erneuerer. Dschamal ad-Din al Afghani zählte als Katalysator für den Wandel zu den Gründern der islamischen Moderne und repräsentiert eine gebildete Klasse, deren Modernisierungsbestrebungen den herrschenden (religiös gebildeten) Eliten zu weit gingen. Der gebürtige Perser war in der Lage, als Religionskritiker den Islam in neuen Kontexten zu sehen. Er wurde zum Gründer des ägyptischen Journalismus (bereits 1875 wird die Zeitung Al Aham gegründet). Interessant fand ich, dass der unabhängige Denker schon zu seiner Zeit Merkmale definierte, die bis heute das wirtschaftliche Wachstum nordafrikanischer Staaten behindern und damit ursächlich für die aktuellen Krisen dieser Länder sind: die Paukschule (obwohl damals unter westlichem Einfluss der Kolonialmächte organisiert), mangelndes Interesse an Naturwissenschaften und an Ereignissen in der übrigen Welt, das Fehlen einer kritischen Presse, eine verarmte, unzufriedene Unterschicht, regiert von einer korrupten Führungsschicht. Liang Qichao (1873-1929) inspirierte als erster moderner Intellektueller, Gelehrter und Reformer Chinas mehrere Generationen von Denkern. Liang wird zum Tode verurteilt, flieht aus China nach Japan und wird dort der berühmteste Intellektuelle. Zahlreiche chinesische Studenten können zu Beginn des 20. Jahrhunderts beim Studium in Japan die ersten Erfahrungen mit westlichen Kulturen und Werten machen. Erst wer Kontakte zu anderen Ländern pflegt, muss die Überzeugung infragestellen, das eigene Land sei die Mitte der Welt. Die intellektuelle und politische Atmosphäre des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Asien und die Probleme der heterogenen asiatischen Staaten stellt Mishra sehr lebendig dar. Bekannter als die og. Vordenker ist als Literaturnobelpreisträger von 1913 Rabindranath Tagore. Er vervollständigt die Reihe scharfsinniger Beobachter zu seiner Zeit von Europäern beherrschter asiatischer Staaten. Tagore hatte keine antiwestliche Einstellung, lehnte aber wie Gandhi den institutionalisierten, bürokratisierten und militarisierten Staat ab. Pankaj Mishra charakterisiert - an Leser aus dem Westen gerichtet - aus asiatischer Sicht eindrucksvoll historische Ursachen der Krise der islamischen Welt und richtet den Blick auf zwei bisher wenig bekannte Reformer aus dem Persien des 19. Jahrhunderts und aus China zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

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