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Buchdoktor

Posted on 7.1.2021

Im Kontakt zu fremden Kulturen erlebt fast jeder den Punkt, an dem man aufgrund der eigenen kulturbedingten Scheuklappen kritisiert, dass ein Staat irgendein Ziel „noch nicht“ erreicht hätte, das einem selbst am Herzen liegt. Sei es Bildung, Gesundheit, Gleichstellung von Frauen, Tier- und Naturschutz, oder die von europäischen Politikern mit Blick auf die übrige Welt gern angemahnte Demokratisierung. Eigene Idealvorstellungen werden hier projiziert, anstatt sich mit Zielen zu befassen, die der betreffende Staat sich selbst gesetzt hat. Bereits auf der ersten Seite seiner Essays zu China und dessen Nachbarstaaten stellt Pankaj Mishra die Bedeutung der eigenen kulturellen Brille für die Beurteilung anderer Staaten heraus. Als Bewohner des indischen Bundesstaates Himachal Pradesh im Norden Indiens hatte Mishra sich zuvor nicht bewusst gemacht, dass sein Vermieter Tibet als Wegkreuzung innerhalb des indischen Kulturraums wahrnimmt, weniger als „autonome Provinz“ und Teil Chinas. Der Dialog mit Mishras Vermieter lässt ahnen, dass Mishras Darstellung ebenso viel über ihn selbst als englischsprachigen indischen Autor erzählen wird wie über die bereisten Länder. Mishra will seinen Lesern über das Verstehen Chinas Asien nahebringen. Bei seinen Reisen in Chinas Nachbarländer werden ihm Gemeinsamkeiten in der Geschichte Indiens und Chinas bewusst, aber auch Gegensätze, die ebenso schwer zu überwinden sind wie die Bergkette im Norden des indischen Kontinents. Zu den Gemeinsamkeiten gehören: das Unterlegenheitsgefühl gegenüber dem als arrogant und herablassend empfundenen Westen, die vergleichsweise späte Entwicklung zum Nationalstaat, die späte Wendung zum Kapitalismus der Moderne, der indisch-chinesische Krieg (1962), korrupte dynastische Eliten als Fortschrittshemmnis, die schamlose Bereicherung dieser Prinzlinge an staatlichem Eigentum, wirtschaftlicher Fortschritt als Förderung von Gier und Umweltzerstörung, Fremdenfeindlichkeit (teils staatlich instrumentalisiert), unvorstellbare Armut der Landbevölkerung, die Situation der Frauen. Nicht für alle Entwicklungen im modernen China hat die indische Geschichte jedoch Erklärungsmuster zu bieten. Mishra sieht Indien als Vorreiter, der aufzeigen kann, wohin der chinesische Weg die neue Mittelschicht des Landes führen wird: In Indien tendieren Globalisierungsgewinner zu konservativen bis reaktionären Auffassungen (S. 118). Gemeinsam scheint beiden Staaten zu sein, dass in der Mittel- und Oberschicht die Aussicht auf persönliche Bereicherung den Wunsch nach persönlichen Freiheiten drastisch verringert. Wer als Gewinner der Verhältnisse selbst satt ist, zeigt kaum Interesse an Menschenrechten, Bildung und medizinischer Versorgung für alle. Mishras Beispiel Indien sollte all jenen eine Mahnung sein, die wider besseres Wissen Wirtschaftswachstum als Antrieb und Garanten für demokratische Prozesse in jungen Staaten sehen wollen. Natürlich fragt man sich bei der Gegenüberstellung Indien/China, wie kritisch die Analyse eines Autors überhaupt ausfallen kann, für den ein kleptokratischer Staat der Normalzustand ist, in dem Gewinne in private Taschen fließen, die volkswirtschaftlichen und menschlichen Kosten dagegen zum privaten Schicksal erklärt werden. Mishras Stärke, als Asiate China zu analysieren, ist aus europäischer Sicht zugleich seine Schwäche, wenn es um Gemeinsamkeiten beider Staaten geht. Mishra analysiert die Situation Chinas u. a. am Beispiel von Romanen chinesischer Autoren und dem Sachbuch eines in Hongkong lehrenden Niederländers zur Lage der chinesischen Bauern. Qian: Die umzingelte Festung (1988 dt.), 1990 für das chinesische Fernsehserie inszeniert. Wright: Passport to Peking Cheek: A Critical Introduction to Mao Ma Jian: Peking Koma (2009), das die moralische und intellektuelle Krise Chinas überspitzt darstellt Yu Hua: Brüder (2009), eine derbe, provokative Konfrontation von Kulturrevolution und neureichem Unternehmertum Dikötter: Maos großer Hunger (engl. 2010/dt. 2014). In der Auseinandersetzung mit den Romanen Yu Huas (hier besonders auch die unterschiedliche Reaktion in und außerhalb Chinas) habe ich eine tiefergehende Interpretation vermisst. Weiter als der Autor selbst in "China in zehn Wörtern: Eine Einführung" dringt Mishra mit seiner Analyse nicht vor. Ein Literaturverzeichnis der genutzten Titel hätte ich mir gewünscht. Fazit Pankaj Mishra wird vom deutschen Feuilleton als brillanter Analyst gefeiert. Den eigenen beschränkten eurozentrischen Blick auf Asien kann einem der Autor durchaus bewusst machen. Auch seiner Suche nach Gemeinsamkeiten in der Entwicklung Indiens und Chinas bin ich interessiert gefolgt. Die Ankündigung, seinen Lesern China verständlich zu machen, setzt Mishra jedoch nur in Grenzen in die Tat um. Der Eindruck unvollkommen verknüpfter Fäden ergab sich bei mir, weil einige von Mishras Reisen schon länger zurückliegen (Tibet 2007, Taiwan 2008), wie auch aus dem Umfang, in dem Erkenntnisse anderer Autoren referiert werden, ohne die einzelnen Aspekte tiefer zu analysieren. (10.10.2012)

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