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Buchdoktor

Posted on 6.1.2021

Ohne Geschichten und Erinnerungen gibt es keine Zukunftsvisionen Hilde und Ylva Østby arbeiten mit starken Bildern. Natürlich wollte ich wissen, was das Tauchen nach Seepferdchen mit dem menschlichen Gedächtnis zu tun hat – und schon hatten die Schwestern Østby mich als Leserin geangelt. Zunächst richten sie den Blick auf autobiografisches Schreiben und die Bedeutung der Erinnerung für Autoren (Proust, Murakami, Linn Ulmann, Knausgard, Buzz Aldrin). Voraussetzung für das Erzählen unserer Lebenserinnerungen ist das Episodengedächtnis, das bei jedem unterschiedlich ausgeprägt ist. Dieser Abschnitt war für mich (mit einem weit zurückreichenden Episodengedächtnis) besonders aufschlussreich; denn bisher kannte ich nur die Behauptung, das Episodengedächtnis von Kindern reiche nicht weiter als bis zum 3. Lebensjahr zurück. Die vermeintlichen Erinnerungen wären angeeignete Erinnerungen aus den Erzählungen Erwachsener. Bei den Østbys klingt die Sache differenzierter: Es gibt Menschen mit ausgeprägtem Episodengedächtnis und andere, deren Episodengedächtnis weiter zurückreicht. Jeweils verknüpft mit einer ausdrucksstarken bildlichen Vorstellung erzählen die Autorinnen von Taxifahrergehirnen, dem Erinnerungsvermögen von Schachspielern und über die Bedeutung von Shakespeares Globe-Theater für das Memorieren von Rollen. Nach dem Attentat von Utøya hat die norwegische Traumaforschung sich intensiv mit der Erinnerung der Überlebenden befasst und dass die Art der Speicherung bestimmt, wie stark uns traumatische Erlebnisse belasten. Für Krimileser aufschlussreich ist das Kapitel über falsche Erinnerungen, die Bewertung und Gewichtung von Zeugenaussagen und wie die norwegische Polizei neue Erkenntnisse darüber in ihre Verhörmethoden integrierte. Wichtig finde ich Erkenntnisse über Zusammenhänge von ADHS und Gedächtnis, wie auch die wechselseitige Wirkung zwischen Depressionen und Gedächtnisstörungen. Schließlich wird Eltern eindrucksvoll präsentiert, warum unsere Kinder nur dann Zukunftsvisionen für diese Welt entwickeln können, wenn ihr episodisches Gedächtnis gefördert wird – z. B. durch gegenseitiges Erzählen von Geschichten von Kindheit an. Die Vorstellung, dass Kleinkinder zukünftig mit Animationsfilmen vom Handy aufwachsen werden, anstatt mit Geschichten aus dem Mund von Eltern und Erziehern, gruselt mich an dieser Stelle nachhaltig. Østbys „Seepferdchen“ ragt aus der Menge von Sachbüchern über das menschliche Gehirn durch seine anschauliche Erzähltechnik hervor. Wenige Kernthemen sind jeweils mit einem anschaulichen Bild verbunden, das dauerhaft in Erinnerung bleibt. Die Autorinnen beschreiben nicht nur die Bilder in den Köpfen von Patienten und Probanden, sie schaffen eigene Bilder, die aus meiner Sicht eindringlicher wirken als hunderte von Seiten Sachtext.

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