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Buchdoktor

Posted on 6.1.2021

Als Nathaniel Williams 14 Jahre alt ist, verkünden die Eltern ihm und seiner älteren Schwester Rachel, dass sie für länger als ein Jahr nach Singapur gehen werden. Ein Kollege von Rose Williams wird zu den Kindern ins Haus ziehen und sich um sie kümmern. Nach den Ferien sollen beide wie geplant ins Internat. Sie nennen ihren Aufpasser „den Falter“ (im Original: the moth). Rose und der Falter haben im gerade beendeten Zweiten Weltkrieg nachts gemeinsam Feuerwache gehalten. Rund 20 Jahre später erkennt Nathaniel, dass die nächtliche Verdunkelung und Ausgangssperre zugleich eine wunderbare Legende gewesen sein muss, um Dinge zu erledigen, von denen niemand wissen soll. Die Verdunkelung und das blaue Licht, mit dem im Krieg nachts die Straßen beleuchtet wurden, sind titelgebend. „Schon damals hätte ich es wissen müssen“, rückt er als Erwachsener die dünnen Auskünfte zurecht, die Rose ihren Kindern über ihre Erlebnisse im Krieg gab. Nathaniel weiß heute, dass England damals mit einer Invasion der deutschen Wehrmacht an der Ostküste rechnete und dass für diesen Fall Vorbereitungen getroffen wurden, um den Angriff so schwer wie möglich zu machen. Außer seiner Mutter müssen im Schutz der Nacht Menschen mit den verschiedensten, ungeahnten Talenten unterwegs gewesen sein. Die Eltern reisen - für die Kinder überraschend – getrennt voneinander ab, offensichtlich nicht nach Singapur. Das Verlassen- und Belogenwerden der Kinder wird die Beziehungen aller nachhaltig belasten; jahrelang werden die Kinder sich fragen, ob ihre Mutter eine Haftstrafe absitzen muss oder ob ihre Tätigkeit sie in Gefahr bringt. Auch die Beziehung zwischen Nathaniel und Rachel wird distanziert bleiben. Man könnte unverschämt finden, wie der Falter sich im Haushalt der Williams einrichtet und von dort aus in einer Zwischenwelt halb legale Geschäftskontakte pflegt. Nach Kriegsende gelten plötzlich wieder Gesetze, über die man während der Kriegsjahre hinweggesehen hat. Schade um die vielfältigen Talente des Falters und seiner Kontakte. Wenn die Kinder Probleme haben, ist der Falter jedoch äußerst fürsorglich für sie da, und Nathaniel wundert sich über die Autorität, mit der er sich für sie einsetzt. Während Rachel sich mit einer schweren Krankheit abfinden muss, die niemand ahnte, tritt Nathaniel durch einen Kellnerjob in die Welt der Erwachsenen ein, in der weitere Figuren eine schützende Hand über ihn halten. Beide Kinder werden später gern an ihr Leben auf dem Fluss zurückdenken, als sie mit dem „Boxer von Pimlico“ unterwegs waren und auf einem flachen Muschelboot im Themsegebiet Hunde transportierten, die angeblich das Publikum bei Hunderennen mit No-Name-Teilnehmern verwirren sollten. Schließlich müssen der Falter und die Kinder erkennen, dass Rose sich mit ihrer Tätigkeit Feinde gemacht haben muss, die nicht davor zurückschrecken, sich an ihren Kindern zu rächen. Jahre später sortiert Nathaniel rückblickend seine Erlebnisse, immer noch auf der Suche nach dem geheimen Auftrag seiner Mutter. Die ungewöhnlichen Personen seiner Jugendzeit erscheinen ihm nun in anderem Licht, als er die schützenden Hände erkennt, die sie über ihn hielten. Der Falter, der Boxer von Pimlico, Harry Nkoma, Olive, Mr Malachite, MacCash, der jugendliche Marsh, sie alle sind wunderbare Figuren, die hier einzeln vorgestellt werden müssten … Nathaniel kombiniert Schritt für Schritt Namen und Tarnnamen, studiert Landkarten und alte Fotos. Die Figuren scheinen jede einen zweiten, wohlgewählten Spitznamen zu haben, was der geheimnisvollen Atmosphäre einen besonderen Kick gibt. Im Theaterstück seiner Familie waren die Rollen zwar sichtbar, aber weder der Titel des Stücks noch sein Text. Die Kulisse ermittelt Nathaniel im Kartenstudium an seinem Arbeitsplatz im Archiv, Textbuch und Besetzung, indem er sich mit der Herkunft seiner Mutter befasst. Er wirkt wie ein Opfer des Kalten Krieges, das das schützende Archiv nicht verlassen kann und an dem das Leben draußen vorbeigeht. Seine tiefsitzende Unsicherheit wird er nicht wieder verlieren, wie auch seine Zeitgenossen nicht, denen der Krieg zeigte, dass ihre Häuser sie nicht mehr schützen konnten. Michael Ondaatje wechselt zwischen seinem inzwischen erwachsenen Icherzähler und einem allwissenden Erzähler, der mir fast schon zu viel Wissen hatte über Rose Williams, die sich beinahe perfekt getarnt hatte. Nathaniel bleibt neutral, er ordnet Namen einander zu und sichtet Dokumente. Jeder Leser kann also seine eigene Interpretation der Ereignisse vornehmen. Vordergründig alltägliche Erlebnisse eines Geschwisterpaars in der Nachkriegszeit fügen sich zu einer Geschichte, von der ich mich gern wegtragen ließ. Ein Roman, der lange nachwirkt und den ich mit dem Wissen um Roses Auftrag gern noch einmal lesen würde.

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