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gwyn

Posted on 6.1.2021

«Jetzt sitzt sie im Irak, über den sie uns kaltblütig angelogen haben. Weshalb konnten meine Eltern sich nie damit anfreunden, in der Schweiz zu leben? Sie schilderten uns einen Wunsch – Irak, aber ihre Worte waren weder klar noch wahr. Sie wussten, wie das Land tatsächlich war.» Die Bibliothekarin Aida hat seit neun Jahren eine feste Beziehung mit Daniel, sie wohnen zusammen. Doch Daniel weiß nichts über sie – klar, sie stammt aus dem Irak. Kein Wort über ihre Vergangenheit kommt über die Lippen. So sehr Daniel auch stichelt und fordert. Aida will darüber nicht reden – eine Sache, die diese Beziehung belastet. Als Daniel auf einer Alm den Rest seines Zivildienstes ableisten muss, setzt sich Aida hin und schreibt ihre Geschichte auf. Heimat, Identität, was ist das? Der Ort, an dem man geboren wird? Oder der, den man adaptiert hat, oder die Herkunft oder auch beides? Kann man nicht zwei, drei, vier oder mehr Heimaten haben? Aida konfrontiert sich mit ihrem Schmerz und ihrer Trauer, dem Verlust – schreiben hat ihr schon einmal geholfen … «Ich habe kein Haus, in dem ich geboren oder aufgewachsen bin. Wenn die Rede auf den Irak kommt, quält es mich bloß, und ich empfinde meine Seele wie einen Haufen trockenes Heu.» Als ihre Eltern knapp 30 Jahre alt sind, flüchten sie mit ihrem Kleinkind vor der der Saddam-Diktatur, der Vater wird bereits gesucht. Sie gelangen in ein Lager in der iranischen Provinz Ghom. Dort wird 1992 Aida geboren. Später erfährt Aida, die Eltern hatten erfahren, dass die UN nur Familien mit zwei Kindern aussucht, die das Lager nach Europa hin verlassen dürfen. Nach über zwei Jahren Aufenthalt im Flüchtlingslager landet die Familie in der Schweiz, in Frauenfeld. Doch die Eltern werden nie heimisch werden. Im Irak hatte sie einen hohen Stand im Dorf, waren wohlhabend, der Vater war neben seiner Arbeit als Landwirt auch als Theologe tätig – eine hochgeachtete Familie. Aidas Eltern kommen nicht damit klar, sich in neue Gegebenheiten einzugliedern. Sprache und Kultur der Schweiz bleiben ihnen immer fremd. Die Mutter bricht ihren Sprachkurs ab, verweigert sich der neuen Sprache. Der Vater müht sich ein wenig, bricht dann auch ab – die Mädchen dienen als Dolmetscher. Die Sprache ist ein Hindernis für die Arbeitsvermittlung, auch hat er keine Ausbildung vorzuweisen; der Verlust der Sprache, der sozialen Abstieg. Zunächst verweigern die Eltern Arbeitsplatzangebote, doch als das Migrationsamt damit droht, die Sozialhilfe zu streichen, nimmt der Vater die Angebote an, in Sozialjobs zu arbeiten. Unter seinem Stand, unter seiner Würde. Die Menschen, die Kultur, das Klima, alles ist so anders – die Eltern vermissen die Heimat. Ganz anders, ein guter Freund des Vaters, der sich sofort zurechtgefunden hat. Die Mädchen gehen zur Schule, wachsen im Schweizer Milieu auf, sprechen wenig arabisch, sondern Schwyzerdütsch. Gesellschaftliche Normen des Westens sind für sie Normalität. «Wenn er über den Irak sprach, waren seine Worte wie ein heftiger Wind, der sich plötzlich beruhigt und sich anfühlt, als würde er ein Boot sanft vorantreiben. Aber dann wütete er wieder und zerstörte alles wie ein Wirbelsturm, der sich nimmt, was er will.» Sie leben seit über neun Jahren in der Schweiz, als sie von Saddams Sturz erfahren. Der Freund des Vaters rät ab, zurückzugehen, die Lage sei noch nicht friedlich. Doch die Eltern wollen auf biegen und brechen zurück in ihr irakisches Dorf, geben den Asylstatus auf, lassen sich zurückfliegen. Doch die Heimat der Eltern ist für die Mädchen fremdes Terrain. «Alles hat eine männliche Farbe, eine männliche Stimme und einen männlichen Geschmack», stellt Aida fest. Nach wie vor herrscht Krieg. Es gibt zunächst keine Schule, die Schwestern können vielleicht auf die Mädchenschule aufgenommen werden, wenn sie die Arabischprüfung bestehen – eine religiöse Schule. Aida und Nosche beschäftigen sich nun mit Ziegenhüten, müssen den Kopf verhüllen. Für die Mädchen fällt es schwer, sich in die Heimat der Eltern einzugliedern, und als Nosche verheiratet werden soll, entschließen sie sich zu fliehen. Der Freund des Vaters ist per Telefonkontakt behilflich und er lost sie ins gefährliche Teheran, wo sie mit falschen Pässen mit seinen Verwandten aus dem Land fliehen, zunächst über die Türkei, wo es wieder neue Pässe gibt. Auf dem Flughafen von Wien entscheiden sich die Schwestern, nicht nach Stockholm weiterzureisen, sondern sie schaffen es, bis nach Frauenfeld durchzukommen. Als alleinreisende Minderjährige werden sie in Frauenfeld als Asylsuchende aufgenommen. Obwohl sie in der Schweiz aufgewachsen sind und dies ihr sprachlicher und kultureller Background ist, wird ihr Asylgesuch nicht angenommen, Nosche, nun volljährig, soll abgeschoben werden und begibt sich in die Illegalität. «Nosche und ich lauschten der Diskussion der Männer. ‹Richtig Fasten kann man hier vergessen. Es ist entweder neblig oder bewölkt, es ist unmöglich, die richtige Zeit des Fastenbrechens zu sehen›, hörten wir meinen Vater sagen. ‹Das ist mir völlig egal, es muss ja nicht auf die Minute sein. Wer hat Allah denn schon mit einer Schweizer Uhr gesehen?» Usama Al Shahmani stellt Heimat und Identität in den Mittelpunkt des Romans, Sprache, ohne die eine Integration nicht möglich ist, Sprache, die bestimmt, wer du bist und was für dich möglich ist. Aida fühlt sich in zwei Sprachen heimisch, wobei sie in der arabischen Sprache nicht sicher ist, sie aber den Zugang zu ihrer Herkunft möglich macht. Obwohl sie die Schweiz als Heimat betrachtet, wird sie immer wieder mit ihrer Herkunft konfrontiert: «Auch ich wollte meinem Namen entfliehen. Das Erste, was ich in der Schweiz hasste, war mein Name. Immer diese Fragen. Ich wünschte mir, Julia, Sara oder Mia zu heißen, wie andere Mädchen in der Klasse. Bis heute leide ich darunter, manchmal hängt mein Name wie ein Stein an mir. Mein Name, mein Aussehen verraten meine Herkunft, auch wenn ich akzentfrei Thurgauer Dialekt spreche. Am Telefon werde ich als Schweizerin behandelt, aber sobald ich meinen Namen nenne, ändert sich das, auch bei mir selbst.» Aida arbeitet in der Universitätsbibliothek, und als sie die Ausstellung zu einer Sammlung der Orientbibliothek betreuen darf, findet sie wieder Zugang zu ihrer Herkunft, das Gefühl zur arabischen Sprache, der Herkunft. Sprache als Teil des Seins. Usama Al Shahmani hat hier eine Doppelflucht beschrieben, die an die Abschiebung von vielen jungen Menschen erinnert, die als Kinder und Jugendliche nach Europa kommen, hier zur Schule gehen, eine Ausbildung machen, und dann mit Volljährigkeit in ein ihnen fremdes Land abgeschoben werden sollen – eine angebliche Heimat, die sich zumeist noch in instabilen Zuständen befindet. Die Sprache von Al Shahmani ist eindringlich, teils von arabischer Blumigkeit durchsetzt. Auch wenn manche Metapher arg klappert, stört das nicht. Es ist ein emphatisches Buch voller Menschlichkeit und Schmerz. Ein Buch, das hilft zu verstehen, mit wie viel Schwierigkeit Integration verbunden ist, die nicht auf Schaltknopf funktionieren kann. Der Autor selbst stammt aus Bagdad, und er hat sicher autobiografische Emotionen eingeflochten. Gerade darum ist dieser Roman sehr berührend, authentisch. «Manchmal beneide ich Daniel. Er hatte immer alles, wurde immer bestärkt in dem, was er tat. Keine Spur von Mangel, Angst oder Unsicherheit, keine Gefühle, wie sie meine Kindheit beengten. Alles ging seinen geordneten Gang wie bei vielen Schweizern. Sie leben wie ihre Kirchturmuhren, sie sind schön und groß, aber sie gleichen sich alle und hören nicht auf, die Zeit zu messen. Meine Zeit ist ein durcheinander, manchmal ist sie in die falsche Richtung gedreht worden.» Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Nasiriya), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert, er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam. Er arbeitet heute als Dolmetscher und Kulturvermittler und übersetzt ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann, «Der Islam» von Peter Heine und «Über die Religion» von Friedrich Schleiermacher. Sein erster Roman «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» wurde mehrfach ausgezeichnet und war u. a. für das «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels» nominiert. Usama Al Shahmani lebt mit seiner Familie in Frauenfeld.

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