Lesen macht glücklich
Ein dystopisches Meisterwerk Was für ein Roman! Schon 1994 geschrieben, ist dieses dystopische Werk, welches sich nahtlos bei den Klassikern wie 1984, Fahrenheit 451 oder Schöne Neue Welt (und sicher vielen andern ähnlich gelagerten Romanen) einreihen kann, ein Buch, dass uns als Menschen den Spiegel vorhält, auch gerade in Zeiten von Corona mit seinen Einschränkungen der Gesellschaft. Diese Geschichte macht einem Angst, auch wenn die Gedankengänge dort eher unrealistischer Natur sind, so sind es die Folgen für die Menschen eben nicht. Was dieses Buch ausmacht, warum es sich richtig gut lesen lässt und warum es gerade jetzt so passend erscheint, wird in der folgenden Rezension erörtert. Die Erinnerungspolizei als Tilger der Vergangenheit In der ganzen Geschichte erfährt man keine Namen oder nur Abkürzungen. Warum auch? Werden sie nicht irgendwann verloren sein, weil man sich nicht mehr erinnern kann? Die Geschichte wird so aus der Sicht einer namenlosen jungen Frau erzählt. Sie hat früh ihre Eltern verloren. Die Mutter wurde von der Erinnerungspolizei verhaftet und starb unter deren Aufsicht und der Vater ist über diesen Verlust nicht hinweggekommen. Die Erinnerungspolizei ist dabei ein Staatsorgan, welches dafür sorgt, dass alle Gegenstände von den zu vergessenden Dingen vollumfänglich von der Insel verschwinden, damit sich niemand mehr daran erinnern kann. Doch wie läuft dieses Vergessen nun ab? Das passiert einfach so. Die Menschen wachen auf und es ist etwas von der Insel verschwunden. Es werden die Vögel aus der Erinnerung getilgt, Rosen oder die Fähren und die Menschen können sich auch nicht mehr an sie erinnern. All diese Dinge sind aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht, ohne mechanische Einwirkungen, einfach so. Doch es gibt auch Menschen, die diesem Prozess nicht ausgesetzt sind, die sich immer noch erinnern können. Diese Menschen werden von der Erinnerungspolizei gejagt, verhaftet und ebenso aus der Gesellschaft getilgt, wie all die gelöschten Dinge, Lebewesen und Lebensmittel. Die eingangs erwähnte Frau ist Schriftstellerin, was in einem Zustand, wenn alles irgendwann gelöscht sein wird, kaum einen interessiert. Bücher, Geschichten und Romane sind etwas, was ein tristes Dasein fristet. Es gibt wenige Menschen, die Bücher und Geschichten lesen. Einer davon ist ihr Lektor, der ihr eines Tages beichtet, dass er zu denjenigen gehört, der sich an alles erinnern kann und deshalb Gefahr läuft, von der Erinnerungspolizei gefasst zu werden. Da niemand aus seinem Umfeld etwas ahnt, fasst die junge Frau einen Entschluss und plant zusammen mit einem alten Freund, ihren Lektor bei sich zu Hause zu verstecken, damit er vor der Erinnerungspolizei sicher ist. Das wird eine Belastungsprobe für alle Beteiligten. Vor allem die junge Frau fühlt sich zu ihrem Gast immer mehr hingezogen. Doch ist es Liebe? Oder vielmehr die Sehnsucht nach Erinnerungen? Was macht uns als Mensch aus? Dieser Roman ist ein ganz großer und eigentlich schade, warum es so lange dauerte, bis er auf Deutsch erschienen ist. Doch nun hat es der Liebeskind Verlag ermöglicht, dass auch wir dieses sehr deprimierende, aber auch lehrreiche Stück Literatur lesen können. Dabei fällt zuerst auf, wie zeitlos dieses Buch ist. Man kann einwenden, dass viele technische Dinge, die heute alltäglich sind, in diesem Werk verständlicherweise nicht vorkommen, aber das ist nicht weiter dramatisch. Trotz dessen wirkt es nicht aus der Zeit gefallen, obwohl es im japanischen Original schon 1994 erschienen ist. Eine lange Zeitspanne zu heute und in diesen ganzen Jahren hat sich unsere Welt von Grund auf verändert. Doch spielt das bei diesem Gedankenspiel eine Rolle? Das kann getrost verneint werden. Wenn man dieses Buch in die Hand nimmt, muss man sich als erstes klar machen, dass keine Erklärungen auf einen warten, warum es auf dieser Insel mit dem Löschen der Erinnerungen so abläuft, wie beschrieben. Es wird als gegeben vorausgesetzt und unter diesen Bedingungen muss man sich auf diese Umstände einfach einlassen. Auch während der Geschichte wird vieles ausgelassen beziehungsweise nur andeutungsweise beschrieben, was dem Charakter der Erzählung geschuldet ist, wird alles aus den Augen der unbekannten jungen Frau beschrieben und sie kann nur das beschreiben, was sie sieht. Alle Vorgänge im Hintergrund bleiben ihr und somit auch uns verborgen, was das Szenario um einiges unheimlicher und grauenvoller erscheinen lässt. Bestimmte Szenen brennen sich regelrecht ins Gedächtnis und lassen Erinnerungen an geschichtliche Ereignisse vor Augen stehen, sei es die Bücherverbrennung unter dem Naziregime in den Dreißiger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts oder auch das Erdbeben 2011 in Japan und der folgende Tsunami mit den bekannten Folgen. Diese Bilder stehen einem beim Lesen genauso vor Augen wie die ganzen dystopischen Szenen von verlassenen Gebäuden, tristen Gegenden, hängenden Köpfen und spürbarer Chancenlosigkeit sich der Situation irgendwie zu erwehren. Das macht dieses ganze Szenario so unerträglich und so intensiv. Zum einen, weil man sich wünschen würde, dass irgendeiner aufsteht und versucht dagegen vorzugehen und auf der anderen Seite fühlt man sich genauso hilflos und allein gelassen wie die Hauptfigur. Zwei ganz große Punkte, die dieser Roman anspricht, spielen auch in unserer Realität eine entscheidende Rolle und eines dieser Punkte kann man anhand der Coronakrise aktuell wunderbar studieren. Der eine Punkt ist, wie die Erinnerungen uns Menschen prägen, uns ausmachen, wir daran wachsen und, wenn wir sie vergessen, daran auch schrumpfen. Gerade diese Fähigkeit des Erinnerns macht uns erst zu den mitfühlenden Wesen, die wir sind. Wenn wir alles vergessen würden, was unser Menschsein ausmacht, wären wir dann nicht alle auch einfach nur wandelnde Hüllen? Dieses Bild macht uns die Autorin in den Schlusskapiteln wunderbar deutlich und jagt beim Lesen einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Man mag bemängeln, dass sie zum Schluss ein wenig zu schnell auf die Tube drückt, aber wir wissen eben nicht, welche Mechanismen im Hintergrund wirken, die genau dieses Tempo bewirken. Genau wie alles davor müssen wir das als Leser*in hinnehmen. Der zweite Punkt, der in diesem Roman eminent wichtig ist und den wir auch auf die aktuellen Situationen anwenden können, ist das ungefragte Annehmen der Situation und das daraus resultierende Dahinvegitieren und Dahinleben zum nächsten Vergessen. Gerade dieser dem Leben der Menschen auf der Insel übergeordnete Punkt bereitet beim Lesen am meisten Angst, da wir aktuell durch die Coronakrise vieles auf eine ähnliche Weise hinnehmen (müssen), um uns und die anderen zu schützen. Die Frage, die dabei ständig im Raum schwebt ist doch wieviel Maßnahmen sind genug? Müssen wir das alles ungefragt hinnehmen und für wie lange? Klar gibt es bei den Corona-Maßnahmen aktuell keine zwei Meinungen. Der Gesundheitsschutz geht vor allem anderen und die Fehler wurden in der Politik gemacht. Aber dieser Roman zeigt auch auf, was passiert, wenn man Menschen gewissen Mechanismen lange genug aussetzt. Sie werden einfach hingenommen und auf eine gewisse Art „akzeptiert“. Ein sehr pessimistischer Blick auf die Welt Dieser Roman ist nicht zum Wohlfühlen da. Er bereitet Bauch- und Kopfschmerzen und lässt einen nicht los. Weder beim Lesen noch danach. Es ist ein Buch mit Langzeitwirkung und kann nur ans Herz gelegt werden, auch wenn es kein einfaches Buch ist. Dabei erwartet einen keine große Brutalität, eher eine alles durchdringende Aussichtslosigkeit und Niedergeschlagenheit. Beim und nach dem Lesen breitet sich eine lähmende Angst aus, die nicht erklärbar ist und die wohl damit zu tun hat, wenn man Menschen einer ausweglosen Situation aussetzt und ihnen klar macht, dass es so nicht anders geht, dass es irgendwann von allen akzeptiert und mutlos hingenommen wird. Aus all diesen Blickwinkeln lässt sich sagen: Ein Buch für die Ewigkeit und ein unbedingtes Muss,