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gwyn

Posted on 5.1.2021

«Bauer, sanft, sechsundvierzig, sucht junge Frau, die das Land liebt.» Bauer sucht Frau. Paul, 46 Jahre alt, Bauer in der Auvergne, auf tausend Metern Höhe betreibt er den familieneigenen Hof und hat die Einsamkeit satt, gibt eine Annonce auf. Vom anderen Ende Frankreichs antwortet aus einer tristen Industriestadt Annette, 37 Jahre alt, ist nur im Paket mit dem elfjährigen Sohn Éric zu haben. Die beiden treffen sich auf halber Strecke und tauschen dabei Fotos aus, Anette zieht mit Eric bei Paul ein, nur Koffer und ein paar Möbel im Gepäck. Die große Liebe ist es nicht, Zuneigung, eine Zweckgemeinschaft, bei der jeder sein Ziel verfolgt. Annette hatte sich immer die falschen Männer ausgesucht, hat sich von Érics Vater getrennt, ein brutaler Alkoholiker und Kleinkrimineller, der nun im Gefängnis sitzt. Sie hat das ärmliche Leben als Kassiererin in der Stadt satt, schlimmer kann es nicht werden, für Eric kann es nur bergauf gehen. «… nach dem Kaffee in drei Sätzen verkündete, er werde im Frühjahr einige Renovierungsarbeiten im oberen Stockwerk vornehmen, wo Ende Juni Annette zu ihm ziehen würde, eine siebenunddreißigjährige Frau aus Bailleul im Norden, mit ihrem elfjährigen Sohn.» Die Landschaft der Auvergne ist rau und schroff und faszinierend, «die Nächte sind dunkler» als woanders, der Regen ergießt sich in Fluten über das Land. Auch der Empfang auf dem Hof ist frostig. Pauls starrköpfige 80-jährige Onkel Louis und Pierre und seine Schwester Nicole lassen die beiden Neuankömmlinge sofort unmissverständlich spüren, dass auf dem Hof kein Platz für sie ist. Aber Hündin Lola schließt sofort Freundschaft mit Éric. Annette und Paul sind zwei Unbekannte, die sich arrangieren, in gegenseitigem Respekt, zum Trotz gegen die Feindschaft von Pauls Verwandten. Der Leser taucht ein in die karg-schöne Landschaft, in die Probleme der heutigen Landwirtschaft und langsam breiten sich die Lebensläufe der beiden Protagonisten aus. Eine Milieustudie aus dem Arbeitermilieu und eine über Bauern in Frankreich, die gegen Landflucht und Agrarpolitik ankämpfen. «Nicole und die Brüder waren anders gestrickt. Hätten sie den geringsten Wind bekommen von dem schrecklichen Vorleben der Frau und des Jungen, deren Anwesenheit in ihrem Revier Paul ihnen aufzwang, sie hätten mit Zähnen und Klauen gekämpft, erbarmungslos und ohne nachzulassen, … (die Mutter) nur halb davon überzeugt zu haben, dass ihr dieses neue Leben auf die Dauer gelingen könnte, das sie gewollt hatte, darauf bedacht, ein Heim zu schaffen, es zumindest noch einmal zu versuchen, bevor Alter, Illusionslosigkeit und alles andere sie endgültig untauglich machen würden zu deser gewagten Akrobatik des aus Einzelteilen zusammengesetzten Paars.» Marie-Hélène Lafon dringt tief in die Charaktere hinein, legt die Gedanken der Protagonisten offen. Der schmale Roman ist eine sprachliche Perle! Die Autorin agiert mit Worten, Rhythmus, mit Satzzeichen, mit Brachylogie. Sie schafft Emotionen mit Inquits, und trotz aller Nüchternheit transportiert sie bewegende Bilder. Lange Sätze, Aufzählungen, das Fehlen von Satzteilen und Kommata treibt das Gesagte wild voran, um später ausgeruht sich treiben zu lassen. Es ist eine Freude, solch gekonnt gesetzten Text zu lesen! Marie-Hélène Lafon, geb. 1962, gehört zu den interessantesten literarischen Stimmen im heutigen Frankreich. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt vorliegen, spielen im Cantal in der Auvergne, in der abgeschiedenen, von Landwirtschaft geprägten Bergwelt, wo Lafon aufgewachsen ist. Seit vielen Jahren lebt und schreibt sie in Paris. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la nouvelle, 2020 den Prix Renaudot.

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