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Der Anfang: «In den wenigen Nächten, in denen sie Schlaf findet, fühlt sie sich wieder als die Frau, die sie einmal gewesen ist. Selten schlief sie mit Nachthemd, sie lag auf dicken, aufgeschüttelten Kissen, die Feuchtigkeitscreme ließ ihr Gesicht glänzen. Manchmal erwachte sie in zerwühlten Bettlaken mit irgendeinem schnarchenden Mann neben sich. Meist aber wachte sie auf dem Sofa auf, allein, neben fast leeren Flaschen und fast vollen Aschenbechern, die Haut von abgestandenem Zigarettenrauch und dem Make-up vom Vortag überzogen, mit schmerzenden Gliedern und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. « Ruth Malone befindet sich im Gefängnis, das ist auf den ersten Seiten klar. Doch sie beschreibt zunächst einen Blick zurück und dann einen in die Realität des Spiegels und wieder zurück an die Stelle, an der alles seinen Anfang nahm. Ein heißer Tag im Sommer 1965, auf den Straßen New Yorks flimmern die Hitze. Ruth lebt allein mit ihren beiden Kindern, sie hatte sich von ihrem Mann getrennt, noch sind sie nicht geschieden. Sie verbringt den Tag mit den Kindern, sie machen Ausflüge und am Abend bringt sie die Geschwister ins Bett, fängt an aufzuräumen. Ihr Mann Frank möchte das alleinige Sorgerecht erzwingen. Das Jugendamt wird bei ihr vorsprechen und ihr Anwalt hatte geraten, die Wohnung gut herzurichten. Berge an Flaschen werden weggeräumt, harte Alkoholika, Müllbeutel entsorgt. In der Nacht geht sie noch einmal kurz mit dem Hund hinaus, schaut ins Kinderzimmer, und dann geht sie selbst schlafen. Am Morgen kocht sie sich Kaffee, schminkt sich perfekt, frühstückt, keinen Gedanken an die Kinder, und irgendwann gegen zehn bemerkt sie, das Kinderzimmer ist leer, die Geschwister sind verschwunden. Panik ergreift Ruth, sie ruft Frank an und der informiert die Polizei. Eine Suchaktion beginnt. Am nächsten Morgen wird zuerst das Mädchen tot aufgefunden und die nächsten Tage auch der Junge. «… und sie sich davon überzeugen konnte, dass die Farbstreifen gleichmäßig waren. In Ordnung. Sie blinzelte, griff zum Kajalstift und nahm die Augen in Angriff. Zuerst die Brauen: hoch aufragende, erstaunt blickende Bögen, die ihre lang gezogenen Augen einrahmten. Lidschatten, flüssiger Eyeliner, drei Schichten Mascara. Sie arbeitete wie eine Malerin – sie mischte, verstärkte und verwischte Farben.» Natürlich geraten auch die Eltern unter Mordverdacht. Wie konnten die Kinder in der Nacht aus der verschlossenen Wohnung verschwinden? Die Polizei observiert nun die Eltern, besonders Ruth, protokolliert haargenau. Was ist das für eine Frau, die aufgestylt zuerst mit ihrem Mann zu einem Modegeschäft fährt, bevor sie ihre ermordete Tochter am Tatort identifizieren soll? Keine Träne, kein Aufschrei am Tatort. Eine Frau, die abends in Bars arbeitet, ständig Männer mit nach Hause nimmt, eine, die raucht wie ein Schlot, harte Alkoholika säuft, die aufreizend gekleidet ist, mit ihrem einladenden Augenaufschlag die Männer verrückt macht – ist das eine gute Mutter? Oder standen ihr die Kinder bei ihrem ausschweifenden Leben im Weg? «Sie zog die Sachen vom Vortag aus und wusch sich an dem winzigen Waschbecken: Hände, Gesicht, unter den Achseln, unter den Brüsten, zwischen den Beinen. Manchmal roch sie sich selbst – diese strenge, gelbe Ausdünstung, die sie bis heute für ihren ganz speziellen Geruch hielt und für die sie sich schämte, wenn sie morgens neben jemand anderem aufwachte. Spitz wie eine läufige Hündin, man riecht’s, Baby.» Der Boulevardreporter Pete Wonicke ist fasziniert von der Femme fatal, für ihn ist dieser Kindesmord die Möglichkeit, sich als Journalist endlich zu etablieren. Er recherchiert im Umfeld von Ruth, und er ist überzeugt, dass Ruth unschuldig ist. Je mehr er über sie erfährt, umso mehr verstrickt er sich persönlich in den Fall, kündigt seinen Job – auch er ist Ruth verfallen, wie manch anderer Zeitgenosse. Der Roman zeichnet das Gesellschaftsbild der 60er Jahre der USA, ist an einem authentischen Fall orientiert. Multiperspektive wechseln wir von Ruth zu Reporter Pete und Sergeant Devlin, der in dem Fall ermittelt. Eine Frau die säuft, sich aufreizend kleidet und Männer vernascht, ihren Mann vor die Tür setzt, einen hart arbeitenden Mechaniker, das ist eine Schlampe. In der bürgerlichen Mitte des Quartiers ist sie eine Außenseiterin: Neidische Blicke der Frauen auf ihre Kleidung, ihre Frisur, Make-up, ihre elegante Bewegung, eine, die eben alle Männer verrückt macht. Eine, die macht, was sie will! Die Männer können ja nichts dazu, wenn sie fremdgehen, werden ja direkt eingeladen. Ist das wirklich nur das Gesellschaftsbild von damals?, fragt man sich? Würde ein ähnlicher Fall heute nicht in gleiche Denkmuster verfallen, befeuert von den Medien? Die Polizei hat sich an Ruth verhakt, bewacht sie Tag und Nacht. Wer sonst soll die Kinder umgebracht haben? Hier wird einseitig ermittelt mit allen Raffinessen, alle anderen Spuren werden liegengelassen, Ruth wird förmlich psychisch in die Mangel genommen. Pete Wonicke ermittelt auf eigene Faust, total von Ruth besessen. Wie rosarot ist seine Brille? Sergeant Devlin kennt Ruth gut, aber er steht unter gesellschaftlichem Druck, den Fall zu lösen. Man kann Ruth nichts nachweisen, sie ist auch zu intelligent, um im in die Falle zu tappen. Wer ist Ruth? Warum ist sie so sehr auf ihr Aussehen bedacht? Warum trennte sie sich von Frank und was waren ihre Träume vom Leben, warum pfeift sie auf Konvention? Immer tiefer dringt der Leser in ihre Gedanken ein. Ein fein geschriebener Roman, der an diesem Fall aufwickelt, wie sehr der erste Schein trügen kann, und er beschäftigt sich mit den Fragen nach Mutterschaft und Moral, der Bedeutung, eine gute Mutter zu sein. Psychologisch durchdacht nimmt uns Emma Flint mit in der Geschichte, prüft unsere eigenen Moralvorstellungen, Vorurteile. Das hat sie geschickt gemacht. Die Mehrperspektivität deckt verschiedene Seiten von Ruth auf – ihre Selbstsicherheit, ihre überschminkte Verletzlichkeit, ihre weggesoffene Traurigkeit. Der / die Täter*in wird in letzter Minute offenbart. Ich muss allerdings sagen, fast hätte ich das Hörbuch zurückgegeben. Glücklicherweise habe ich ihm noch eine Chance gegeben. Es lag an einer Stimme. Shandra Schadt liest mit Piepsstimme, die mir so gar nicht lag. Und wenn sie die Passagen von Ruth’s Tochter las, musste ich weiterspulen. Das klang wie Micky-Mouse. Ich dachte schon, die Tonspur läuft zu schnell, verlangsamen half auch nichts. Glücklicherweise hat das Mädchen nur wenige Stellen und den größeren Teil spricht Hans Jürgen Stockerl. Das ist alles Geschmack! Wer das gleiche Problem hat: Dranbleiben, es wird besser – oder das Buch lesen, der Roman lohnt sich! Emma Flint wurde in Newcastle upon Tyne im Nordosten Englands geboren. Sie studierte Englisch und Geschichte an der University of St Andrews und ist Absolventin des Schreibprogramms der Faber Academy in London. Seit ihrer Kindheit liest Flint Berichte über reale Verbrechen und entwickelte über die Jahre ein enzyklopädisches Wissen über Mordfälle und berüchtigte historische Persönlichkeiten sowie eine Faszination für unkonventionelle Frauen – vergangene, gegenwärtige und fiktive. Flint lebt und arbeitet in London.