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Lenislesestunden

Posted on 5.1.2021

"Beinahe Herbst" von Marianne Kaurin habe ich morgens spontan aus dem Regal gezogen und dann innerhalb eines Tages verschlungen. Von der wunderschönen Gestaltung dieses Buches sollte man sich nicht täuschen lassen, denn der Inhalt ist alles andere als leicht: 1942 ist Ilse Stern 15 Jahre alt und lebt mit ihren Eltern und zwei Schwestern in Oslo. Gerade ist sie dabei, sich selbst, ihre Sehnsüchte und ihre Gefühle für den Jungen aus der Wohnung gegenüber zu entdecken, als der Krieg und die damit verbundene Besetzung Norwegens durch die Deutschen sie und ihre jüdische Familie erreicht und sich alles in ihrem Leben verändert. Das war die kürzeste Zusammenfassung, die ich geben konnte, denn ich möchte nichts vorwegnehmen, da ihr alle unbedingt dieses Buch lesen sollt. ;) Was mit poetischen, wundervoll atmosphärischen Beschreibungen des herbstlichen Oslos und der ersten Verliebtheit Ilses beginnt, entwickelt sich von Seite zu Seite dramatischer und vielschichtiger. Immer mehr Perspektiven kommen im Laufe der Geschichte zu der von Ilse hinzu, seien es die restlichen Familienmitglieder oder Nachbar*innen. Marianne Kaurin schafft es so, ein komplexes Bild des zweiten Weltkriegs und seiner Auswirkungen auf Jüdinnen und Juden zu zeichnen, das trotzdem passend für ein Jugendbuch ist (der Verlag empfiehlt das Buch ab 14). Insbesondere die Zerrissenheit der Personen, die selbst nicht bedroht sind, aber zu Mittäter*innen werden, wurde sehr gut dargestellt. Ganz besonders gefallen hat mir, dass die Perspektiven alle an bestimmten Punkten ineinander greifen und man so viele Situationen aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten kann. Anzumerken ist auf jeden Fall, dass auch das unfassbare Leid der Inhaftierten in Konzentrationslagern beschrieben wird. Und gerade das macht "Beinahe Herbst" für mich aus: Diese ungeschönte Darstellung des Grauens, aber auch wie nah beieinander größtes Leid, Glück, Hoffnung und Verzweiflung liegen können. Ich weiß eigentlich gar nicht mehr zu sagen außer, dass dieses Buch sehr intensiv und bewegend ist und meiner Meinung nach alle Preise, die es bekommen hat, mehr als berechtigt sind.

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