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Sarah Jørgensen

Posted on 4.1.2021

Hekla ist Autorin, soll jedoch lieber "Miss Island" werden, Jón möchte Theaterkostüme schneidern und einen Mann lieben, muss aber mit auf Fischtrawlern mit Schleppnetzen kämpfen und wird in der Stadt verprügelt. Ísey will schreiben, ist jedoch gefangen zwischen Kellerwohnung und Fischladen. Während Island, das Land über den Kontinentalplatten, stets in Bewegung ist, müssen sich Hekla, Jón und Ísey den gesellschaftlichen Normen und patriarchalen Stillstand fügen und Hekla unter einem männlichen Pseudonym publizieren, Jón eine Frau heiraten und Ísey sich ausschließlich in Briefen ausdrücken. Ich liebe die Bücher der isländischen Autorin Auður Ava Ólafsdóttir und ich hielt es nicht für möglich, aber mit der wunderbaren Geschichte "Miss Island" hat sie sich noch einmal selbst übertroffen": Das Buch gibt uns Leser*innen einen Einblick in die Realität der Frauen in Island in den 60er Jahren. Es zeigt das beängstigend enge Rollenbild, in das Frauen - nicht nur auf Island - gezwängt wurden, und das doch so viele Frauen nur schwer ertragen konnten. Doch aus dieser beengten Gesellschaft, dem beengten Denken wuchsen schon immer Autorinnen, die mit ihren Werken gesellschaftliche wie sprachliche Grenzen durchbrechen und ihr Innerstes, ihre Gedanken, ihren Willen, ihren Geist zum Leben erwecken und ihre Perspektive, ihr Leiden und ihre Kämpfe für die Welt sichtbar machen. Ólafsdóttir zeigt die Schwierigkeiten, denen junge Menschen ausgesetzt waren, die sich gegen Erwartungen auflehnten, die Vorurteile, die männliche Macht und die egozentrische, unzugängliche, bedrohliche männliche Elite. Wie viele Menschen haben sich früher den Erwartungen gefügt und sind klaglos auf dem engen Pfad gesellschaftlicher Normen durchs Leben gegangen - wie viele gehen diesen Pfad bis heute? Wie viel Unglück hat das verursacht, wie viel Leid, Krankheit und sogar Tod? Ólafsdóttir erzählt ebenso zart wie eindringlich, ergreifend und liebevoll und dennoch voller Durschlagskraft und erinnert uns Leser*innen daran, dass das Glück nicht immer dem Weg folgt, den die meisten beschritten haben. Ich liebe dieses Buch, die Charaktere, dieliterarischen Referenzen, Gespräche und die Beziehungen zwischen den drei Perotagonist*innen, vor allem die zwischen Jón und Hekla. Besonders berührt hat mich die Stelle, an der Heklas Vater sagt, sie wurden beide zu früh geboren, sie verdienen ein lebenslanges Glück. Mein Dank gilt auch der Übersetzerin Tina Flecken, die es geschafft hat, Ólafsdóttirs unglaublich schöne Sprache ins Deutsche zu transportieren.

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