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Buchdoktor

Posted on 2.1.2021

Yu-Chien Kuan und Petra Häring-Kuan wollen mit diesem Buch deutschen Lesern ein realistisches China-Bild vermitteln, die die wachsende Wirtschaftsmacht bisher nur aus den Medien oder aus der Touristen-Perspektive kennengelernt haben. Zudem erhoffen sie sich eine Wirkung des Buches auf die politische Führung der aufstrebenden Wirtschaftsnation. In anonymisierten Stellungnahmen äußern sich 200 Chinesen aller Altersgruppen, mit denen die Häring-Kuans in China gesprochen haben. In der Auswahl der Gesprächpartner dominiert die Generation der über Fünfzigjährigen. Für viele von ihnen scheint das Lob charakteristisch, wie sehr sich seit der Maozeit die Lebensqualität verbessert hätte, sowie die Zufriedenheit mit dem Erreichten "Wir können uns nicht beklagen". Die Autoren zitieren eine Umfrage, mit der in China 8000 Personen nach den drängendsten Problemen ihres Landes gefragt wurden. Genannt wurden (in dieser Reihenfolge) Korruption, der Autoritätsverlust der Partei, Angst vor Aufständen aufgrund der sozialen Ungleichheit, Furcht vor weiter steigenden Immobilienpreisen und der zunehmende Werteverfall. Häring-Kuans Diskussionspartner (Verlierer wie auch Gewinner des Sozialismus chinesischer Prägung) fügen dieser Aufzählung eine lange Liste von Problemen hinzu. Genannt werden wachsender Druck am Arbeitsplatz, die geringe Wertschätzung der chinesischen Kultur, kurzsichtige Stadtplanung und ihre Prestige-Projekte, das moralische Vakuum, das die Kulturrevolution hinterließ, organisierte Kriminalität, sowie Mängel im Rechtssystem, in dem Politkader und nicht Juristen die Entwicklung bestimmten. Die überholte Gesetzgebung verhindere z. B. die Integration der Wanderarbeiter in den Städten, weil die Meldegesetze der wirtschaftlichen Entwicklung nicht angepasst wurden. Die Situation der Bauern wird erläutert, die nur Nutzungsrechte am Boden haben, während lokale Kader durch Verkauf und Verpachtung der Nutzungsrechte üppige Profite kassieren. Deutlich wird die Angst vieler Chinesen vor Arbeitsunfähigkeit und Alter "Du musst für dich selbst sorgen, die Partei lässt dich fallen, wenn du nicht mehr kannst". Gesundheitsgefahren durch Umweltschäden und zunehmender Trinkwassermangel werden genannt. Viele, die im Ausland gearbeitet haben, äußern Enttäuschung darüber, dass sie nach ihrer Rückkehr die Ideen nicht umsetzen konnten, mit denen sie ihr Land voranbringen wollten. (Die Kritik, dass Entscheidungen nicht von Fachleuten, sondern von Parteikadern getroffen werden, zieht sich wie ein roter Faden durch die Aussagen). Zwei Pensionäre, beide über 70, beklagen, dass unter Mao Armut, Rechtlosigkeit und Korruption die Menschen auf die Straße brachten und dass sie heute meinen, sich nur im Kreis gedreht zu haben und vor den selben Problemen wie damals zu stehen. Breiten Raum nimmt Kritik an der Kommerzialisierung des Bildungs- und Gesundheitssystems ein. Alle Kritiker des Pauksystems chinesischer Art, die im Buch zu Wort kommen, versichern: die eklatanten Mängel des chinesischen Ausbildungsystem verhindern, dass China ein Standort der Innovationen wird. Kritisert werden mangelnde Qualifikation der Lehrer (auf dem Land sind nur 20% der Lehrer angemessen für ihre Tätigkeit ausgebildet), veraltete Lehrmethoden, Manipulationen bei Prüfungen, um trotz nicht erbrachter Schülerleistungen die Leistungszulage des Lehrers sicherzustellen, Erhebung zusätzlicher Gebühren, obwohl der Staat kostenlose Bildung in den ersten sechs Schuljahren vorsieht. Einige Eltern denken sogar ans Auswandern, um ihren Kindern im Ausland eine bessere Bildung zu ermöglichen. Man kann sich den auf die Bildungsmisere folgenden Mangel an qualifizierten Arbeitskräften leicht ausmalen. Eliten schicken ihre Kinder auf kostspielige Privatschulen, während Kinder auf dem Land Inhalte häufig noch von der Tafel herab auswendig lernen, ohne sie zu verstehen. Der Wunsch nach Reformen wird von einigen nur zögend ausgedrückt, die Ereignisse der Mao-Zeit in rührender Naivität idealisiert. Mit dem Wandel von staatlicher Bevormundung zur Eigenverantwortung sind viele noch überfordert. Wenn eine Regierung die Bürger wie unmündige Kinder behandelt "Ihr müsst mir glauben und gehorchen, weil ich es gut mit euch meine", wundert die verbreitete Haltung nicht, dass sich nur Ärger einhandelt, wer sich um die Angelegenheiten des Landes sorgt. Einige Statements wirken in ihrer Ichbezogenheit befremdend auf den westlichen Leser (die Regierung solle für Wohnung, Kleidung und Nahrung ihrer Bürger sorgen und sei für die Verbesserung des Lebensstandards zuständig). Ein anderes als ein Einparteiensystem scheint vielen unvorstellbar; Kritik an der Partei von innen wird für unmöglich gehalten. "Chinesische Rettiche wachsen nicht auf westlichem Boden" will uns darauf hinweisen, dass kaum ein chinesischer Gesprächspartner der Häring-Kuans sich demokratische Strukturen in China vorstellen kann. "In China haben wir Bauern, in Europa Bürger." Demokratie sei ein westlicher Begriff, der sich mit dem Denken in Familienstrukturen und Kollektiven nicht vereinbaren lässt. Eine Demokratie würde nicht funktionieren, weil niemand bereit sei, sich an Regeln zu halten und Wahlergebnisse zu akzeptieren. Kader und Politiker würden bereits jetzt offen gegen bestehende Gesetze verstoßen. Auffällig, dass meist "den anderen" demokratische Reife abgesprochen wird. Verblüfft hat mich die Ansicht eines Gewährsmannes der Autoren, dass die für Asien typische Unfähigkeit zu Trauer und Reue, also die kritische Bearbeitung der Fehler der Mao-Zeit, den Reformen der Gegenwart im Weg steht. Die selten so offen geäußerte Kritik an den "verlorenen Jahren" könnte eine Erfolg versprechende Variante des "Lernens aus der Vergangenheit" sein. Bemerkenswert finde ich, dass gerade Geschäftsleute konfuzianische Tugenden wie Achtung des Alters, gegenseitigen Respekt, Rücksicht, Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit wiederbelebt sehen wollen. Sie sind überzeugt davon, dass sich Konfuzianismus und Korruption ausschließen und dass die Korruption die größte Gefahr für die Entwicklung der chinesischen Wirtschaft sei. Die Einführung von Direktwahlen auf lokaler Ebene wird an anderer Stelle als wichtigstes Mittel gegen Korruption genannt, denen allerdings Clan-Strukturen immer noch im Weg stehen. "China kann sich nur ändern, wenn jeder bei sich selbst aufräumt" stellt einer der Interviewpartner fest. In der Summe fällt die verbreitete Unzufriedenheit auf bei mangelnder Bereitschaft, sich oder die eigenen Gewohnheiten zu verändern. Einschränken sollen sich immer andere, während man selbst alle Segnungen der Moderne nutzen möchte. In der Konsequenz fällt der Schutz der Umwelt für viele in die Verantwortung des Staates und nicht in die eigene. Ein eng verknotetes Problem-Knäuel dokumentieren die Autoren aus Zukunftsängsten einer alternden Gesellschaft, Landflucht, Leistungs-Druck auf die Kinder und Wunsch nach Steigerung des persönlichen Lebensstandards. Zur Entwirrung des Knäuels durch Analyse der Zusammenänge und klare Herausarbeitung möglicher Auswege tragen die Autoren leider wenig bei, obwohl sie durch ihre interkulturellen Kompetenzen die Idealbesetzung für diese Rolle wären. Sie beschränken sich auf die reine Chronisten-Tätigkeit, zeigen einige Positiv-Beispiele von Menschen, die außerhalb korrupter Strukturen bereits erfolgreich Veränderungen in Gang gesetzt haben und vertrauen weitgehend auf die Macht des Internets und der Bloggerszene, die die chinesische Staatsführung zum Einlenken bringen sollen. Eine angenehm zu lesende, nicht zu umfangreiche Darstellung des Status Quo, die dem wenig Neues bringt, der die Berichterstattung aus China regelmäßig verfolgt. (22.2.2012)

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