Buchdoktor
Paolo kommt als Erwachsener auf die Insel San Giustiniano zurück, auf der er als Kind im Haus seiner Familie die Sommerferien verbrachte. Nach außen wirkte der Aufenthalt im Sommer vor 10 Jahren idyllisch, doch unter der Oberfläche muss es in der Familie bereits gebrodelt haben. Seine Mutter hatte an ihrem jüngsten Sohn viel zu kritisieren, so musste er auf der Insel Nachhilfeunterricht nehmen. Ein besonderes Verhältnis hatte Paolo zu seinem Vater, der regelmäßig mit ihm ins Café in der Altstadt ging, um „Erinnerungen zu sammeln für später “. Die entscheidende Person fehlt jedoch in der Gegenwart; Giovanni/Nanni hat inzwischen die Insel verlassen. Als Zwölfjähriger lernte Paolo den Kunsttischler mit den zarten Händen kennen und ahnte damals nicht, dass er den jungen Mann begehrte. Als der Ebenista einen Schreibsekretär von Paolos Großvaters restauriert, besucht Paolo ihn regelmäßig in der Werkstatt, vordergründig fasziniert von Nannis Handwerkskunst. Nanni sorgt nach dem Tod der Eltern für seinen jüngeren Bruder und mag Paolo als erste Liebe, Mentor, Ausbilder und Vaterfigur gleichermaßen beeindruckt haben. Das prickelnde Gefühlswirrwarr aus Angst vor dem Verbotenen, Scham und Erregung ist Paolo heute noch so gegenwärtig wie vor 10 Jahren. Erst aus dem Abstand des Erwachsenen kann er erkennen, dass sein Vater ein attraktiver Mann gewesen sein muss – und dass auch beide Eltern Nanni damals intensiv betrachtet haben müssen. Jahre später lebt Paolo nach einem Literaturstudium in den USA, als eine einzige Szene sein Weltbild ins Rutschen bringt. Er beobachtet seine Partnerin Maud im innig wirkenden Gespräch mit einem attraktiven Italiener. Paolos Gedanken wandern zurück zur Insel seiner Kindheit und als Leser ahnt man, dass sich seine Schüchternheit seit damals kaum verändert haben wird. Beim Tennisspielen hat Paolo sich in den älteren Manfred verliebt, den er für unerreichbar hält und an den er sich in winzigsten Schritten herantastet. Auch zu Manfred hat Paolo lange Zeit eine unerfüllte Beziehung, deren Details nur in seinen Träumen existieren. Als Student hatte Paolo eine unentschlossene Beziehung zu Chloe, in der beide nicht wagten, sich ihre Liebe zu gestehen und sie zu leben. Verheiratet ist Paolo inzwischen mit einer anderen Person … André Aciman lässt seinen Icherzähler Paolo in einem eleganten, hocherotischen Text uneingestandene Gefühle und nicht gelebte Liebesbeziehungen reflektieren. Zwischen fünf Kapiteln ranken sich Verbindungen auf unterschiedlichen Ebenen, dominierende Verknüpfungen sind Paolos Angst vor Abweisung und seine Annahme, er könne vor anderen seine Gefühle verbergen. Das erste Kapitel wirkt auf mich am rundesten und intensivsten, wie eine komplette Novelle auf 100 Seiten. Es erinnert mich stark an "Ruf mich bei deinem Namen". Beeindruckend finde ich, wie genau der Erzähler im Rückblick unterscheidet zwischen seiner Sicht als Zehnjähriger und dem kompletten Bild der Ereignisse, das er erst in der Gegenwart zusammenfügen kann.