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Buchdoktor

Posted on 1.1.2021

Mottes/Morten Schumachers Leben wird auf den Kopf gestellt, als der Vater seines Freundes Bogi die Turnierfahrt absagt, auf der sich die Jungs mit Amselfelder besaufen wollten. Vater Bogert hält sich anfangs mit genauen Aussagen über Bogis Krankheit zurück; Nachrichten zwischen den Jungs werden auf dem Umweg über die Erwachsenen ausgetauscht. Als schließlich die Diagnose Non-Hodgkin-Syndrom feststeht, sieht sich der 15-jährige Icherzähler unter dem Druck, Bogi im Krankenhaus zu besuchen und sich mit ihm zu unterhalten. Bogis Leben scheint unerwartet stehengeblieben zu sein – worüber soll man sich mit jemanden unterhalten, der nichts mehr erlebt? Motte scheint es am schwersten von allen Beteiligten zu fallen, Bogi mit Allerweltskram aufzuheitern. Woher sollte er das auch können? Krankenhaus, Krankheit überhaupt, das ist für die Jungen eine hassenswerte Welt, in der man die Kontrolle über sich abgeben muss. Neben einem beunruhigenden Interesse an Jacqueline Schmiedebach (die mit dem Hollandrad) und der Peinlichkeit einer neuen „Lebensgefährtin“ seines Vater sieht Motte sich verpflichtet, plötzlich wie ein Erwachsener für den schwerkranken Freund da zu sein. In der unrealistischen Erwartung, Motte könnte das von einem Tag auf den anderen, spiegelt sich die Hilflosigkeit der Erwachsenen, die Bogis drohendem Tod ebenso unvorbereitet gegenüberstehen. Allein durch ein Wort wie Turnbeutel oder Plattenladen entsteht hier ein authentisches Feeling der 70er Jahre. Matthias Brandt zeichnet das Bild eines weichgespülten, behüteten Jahrzehnts, in dem Jugendliche aus heutiger Sicht bemerkenswert realitätsfern aufwuchsen. Dafür glaubten viele sicher zu wissen, dass Zivildienstleistende oder Sanitäter Drückeberger waren, jedenfalls so lange, wie sie selbst nicht zur Musterung gezogen wurden. Motte wird seine Weltfremdheit bewusst, als der Schornsteinfeger klingelt – es ist Steffi, mit der er gemeinsam zur Grundschule ging. Steffi gehört zu denen, die von Mottes Jahrgang automatisch herablassend behandelt werden, auch wenn niemand von ihnen persönlich Hauptschüler kennt. In der Begegnung mit der hinreißend normalen Steffi müsste selbst Morten auffallen, dass er im Gegensatz zu ihr keine Meinungen formulieren kann und keine Entscheidung treffen. Das Mädchen entwickelt sich zu Mortens großer Stütze, u. a. weil sie erstaunlich viel über Bogi weiß. Motte wirkt auf mich ein wenig zu brav und zu verständnisvoll, besonders gegenüber steinalten Lehrern. In seinem Alter wäre er eigentlich verpflichtet, Deutsch und Französisch zu hassen, aber nein, seine Deutschlehrerin mag ihn, weil er Wörter mag. Coming-of-Age-Geschichten gibt es zwar viele, aber wie Morton das Leben und das andere Geschlecht entdeckt, das finde ich treffsicher gezeichnet und absolut lesenswert.

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