Buchdoktor
Helena Pelletier wohnt heute mit Mann und Kindern in einem unzugänglichen Moorgebiet auf Michigans Upper Peninsula am Lake Superior. Als sie im Radio von einem entflohenen Strafgefangenen hört, bricht ihre Familienidylle schlagartig zusammen. Der Geflohene ist ihr Vater, der Helenas Mutter im Teenageralter entführte und mit der gemeinsamen Tochter 12 Jahre lang gefangen hielt. Helenas Handeln in der Gegenwart wird mehrfach von einem Cliffhanger unterbrochen, dem ein Rückblick folgt, dem ein Abschnitt während der Verfolgung des Vaters folgt, … usw. Der Mann, der sich Jacob Holbrooke nennt, stammt von Ojibwe ab und ist ein vorzüglicher Fährtenleser und Fallensteller. In der Öffentlichkeit wird der „Moorkönig“ als Psychopath bezeichnet; weitere psychiatrische und neurologische Diagnosen liegen vor. Helena identifizierte sich als Kind ausschließlich mit dem Vater, eifert ihm nach, wetteiferte darin, ihn im Fährtenlesen zu übertrumpfen. Sie träumte sogar davon, in Arbeitsschuhen und kariertem Hemd eines Tages ein Mann zu sein. Helenas Mutter lebte damals in erlernter Abhängigkeit und ständiger Angst vor der Gewalt ihres Entführers. Helena erlebte ihre Mutter als scheues schattenhaftes Wrack. Sie sei an ihrer Lage mitschuldig gewesen, weil sie sich nicht gewehrt und keinen Fluchtversuch unternommen hätte, beschönigt Helena ihre dürftige Einfühlung in ihre Mutter. Auch nachdem sie selbst inzwischen zwei Kinder geboren hat, beharrt sie auf ihrem harten Urteil über die Frau, die sie als Dienerin des Vaters erlebt und nicht etwa als Teammitglied beim autarken Leben in der Natur. Als Helena und ihre Mutter in die Zivilisation zurückgeholt werden, kennt das Mädchen keine Elektrizität und hat erhebliche Probleme im Umgang mit anderen Menschen. Für Helena war ihr Leben die Norm und sie kann daran nichts Ungewöhnliches entdecken. Wie sonst sollte ein Mann auch eine Frau finden, als sie einfach von irgendwo mitzunehmen und in seiner Hütte anzuketten. Eine Psychiaterin und einen Therapeuten in ihrem Leben benennt Helena zwar kurz, nennt auch ein paar Begriffe zur Vorgeschichte ihres Vaters, das wirkt jedoch für einen Psychothriller reichlich oberflächlich. Dass sie fiktive Passagen einschiebt, wenn sie nicht mehr weiß, was sich warum zugetragen hat, macht sie als Erzählerin nicht glaubwürdiger. Die erwachsene Helena hinterlässt bei mir bei allem Mitgefühl für ihr Schicksal einen zwiespältigen Eindruck. Sie betont stets ihre besonderen Fähigkeiten, obwohl sie sie bereits erschöpfend szenisch gezeigt hat. Warum ein Ausnahmetalent wie sie vom Verkauf selbstgekochter Marmelade lebt und nicht im Naturschutz oder in der Umweltbildung arbeitet, erschließt sich mir nicht. Helenas Schicksal fand ich zwar interessant, doch trotz zunehmend schnellerer Aneinanderreihung von Cliffhangern ließ die Spannung in der zweiten Hälfte des Buches nach, anstatt sich zu steigern. Geärgert habe ich mich bei einem derart gehypten Buch über stilistische und sachliche Fehler. Die Perspektive eines Kindes, das nicht vermisst, was es bisher nicht kannte, wirkt für diese spezielle Icherzählerin zu stark in der städtischen Welt verhaftet, die Helena zum Zeitpunkt der Ereignisse noch nicht kennen konnte. Helenas gegenwärtige Vorstellung von dem, was vor über 15 Jahren auf Twitter (gegründet 2006) und Facebook (gegründet 2004) stattgefunden haben soll, (zudem in einer dünn besiedelten Gegend) wirkt unglaubwürdig. Neben einer unreflektierten, unzuverlässigen und offenbar nicht austherapierten Icherzählerin fehlt der Handlung dringend eine weitere Erzählperspektive. Ein Roman, der vom Überleben in einer abgelegenen Gegend handelt, würde perfekt in mein Beuteschema passen, doch weder Thriller-Fans noch Naturliebhabern kann ich ihn empfehlen. (26.7.2017)