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Marc Lippuner

Posted on 1.1.2021

Wer von Euch macht sich unmittelbar vor dem Beginn einer Theatervorstellung – beim Abreißen der Karten oder dem Abgeben des Mantels, während man im Foyer herumstehend sein Vorabgetränk zu hastig leert oder sicherheitshalber doch noch mal zum Klo rennt, wenn der erste Gong ertönt, beim Einnehmen der Plätze oder beim Durchblättern des Programmhefts – Gedanken darüber, was eigentlich gerade hinter der Bühne passiert? Während sich das Publikum plaudernd sammelt, macht sich hinter dem Vorhang, dem roten oder dem eisernen, und falls beide nicht im Einsatz sind, dann hinter den Kulissen, in den Garderoben, in der Maske, am Inspizientenpult oder in der Kantine, eine ganz eigene Stimmung breit – zwischen Konzentration und Anspannung, Zigarettenrauch und Haarspraygeruch, letzten Requisitenchecks und den Durchsagen der Inspizienz, sogenannten Zeichen (engl.: calls), die drei Mal vor jeder Vorstellung allen signalisieren, wie viel Zeit noch bis zum Beginn verbleibt. Diese aufregenden, intimen dreißig Minuten dokumentiert der Bildband TIME TO ACT, der kürzlich im Verlag Salz und Silber erschien. Das hochwertige Coffee Table Book versammelt Bilder des Fotografen Simon Annand, der seit mehr als dreißig Jahren Schauspieler:innen backstage fotografiert – nicht an deutschen Stadttheatern, sondern an weltberühmten, zumeist Londoner Häusern, wie dem Theatre Royal Haymarket, Wyndham‘s, dem Shaftesbury oder dem National Theatre. Er portraitiert Leinwandstars wie Cate Blanchett, Judi Dench, Anthony Hopkins, Jude Law, Daniel Radcliffe, Vanessa Redgrave oder Tilda Swinton, die allesamt nicht nur vor der Kamera, sondern gelegentlich oder regelmäßig auch auf der Bühne stehen, wie beispielsweise Glenn Close, die über Monate im Musical Sunset Boulevard am Broadway und am Londoner West End brillierte. Das Titelfoto des Bildbandes zeigt Oscar-Preisträger Eddie Redmayne als Richard II., hinzu kommen unzählige Gesichter, die man hier am ehesten aus Netflix-Serien oder sogar noch aus dem linearen Fernsehen kennt: Gillian Anderson (X-Files, The Crown), Patrick Steward (Star Trek), Indira Varma (Game of Thrones, Carnival Row), Kim Catrall (Sex and the City) oder Sophie Okonedo (Ratched). „Ein Grundsatz von Time to Act ist, Schauspieler – wann immer es möglich ist – nicht als solche darzustellen. In erster Linie geht es um den Menschen, also die Frau oder den Mann. Berühmt oder nicht spielt dabei keine Rolle“, betont Annand im Prolog seines Buches. Doch natürlich machen die Prominenten den Reiz des Bildbandes aus, der ohne sie vermutlich nicht auf dem deutschen Markt erschienen wäre: Ein schäferhundstreichelnder Jake Gyllenhall, ein zigaretterauchender Jeremy Irons, Juliette Binoche im Bademantel oder John Goodman, der Zunge rausstreckend Dehnübungen macht. Stars jenseits des roten Teppichs, ohne für Werbefotos perfekt gerecht gemacht zu sein. Die Anordnung der überwiegend großformatigen, zumeist farbigen Fotografien folgt den Durchsagen vom Inspizientenpult: Nach dem Half Hour Call, also dem ersten Zeichen, wird gechillt, geraucht, gedehnt, grimassiert, ab dem 15 Minute Call wird fertig frisiert, geschminkt und vor dem Spiegel sinniert, zum 5 Minute Call, dem dritten und letzten Zeichen, warten die Schauspieler:innen in der Garderobe auf ihren Einruf, bis im abschließenden Kapitel Curtain Up die spannungsreiche Warterei auf der Hinterbühne fortgesetzt wird. Zu jedem Foto gibt es einen kleinen Satz, der die Atmosphäre während der Aufnahme beschreibt oder Annands Bewunderung für die abgebildeten Personen ausdrückt. Seine Fotos sind Momentaufnahmen, jedoch keine Schnappschüsse – sie sind Zeugnis des Vertrauens, das die Schauspieler:innen dem Fotografen entgegengebracht haben: atmosphärisch, (be)sinnlich und intim. Wer jemals vor einer Vorstellung hinter der Bühne zu tun hatte, dem wird beim Betrachten der Bilder vielleicht ein bisschen wehmütig, weil ihm sofort der Geruch aus der Maske in die Nase steigt, dieser Mix aus Puder, Fettcreme und Haarspray, in den sich gelegentlich kalter Zigarettenrauch schleicht, die andächtige Betriebsamkeit, die zahlreichen Hände, die hier zupfen und dort noch etwas zurecht legen, die knackenden Durchsagen der Inspizienz, die zum Auftritt ruft, und natürlich der Moment, wenn das Licht im Saal langsam erlischt und das Spiel beginnt. [Dies ist die in sich gekürzte und leicht abgeänderte Version meiner Buchbesprechung. Zur Komplettversion kommt Ihr hier: https://lippunermarc.wordpress.com/2020/12/30/time-to-act/]

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