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Buchdoktor

Posted on 1.1.2021

Als 1989 die Mauer zwischen der DDR und der Bundesrepublik fällt, sind Mick und Gabriel 19 Jahre alt. Im selben Jahr von zwei Müttern geboren, haben sie einen gemeinsamen schwarzafrikanischen Vater, der in Leipzig studierte und von seinen Söhnen wusste. Idris kann im Gegensatz zu Monika und Gabriele das Land „einfach“ verlassen. Das tut er, weil beide Frauen keine Forderungen an ihn stellen. Als Mick zur Jahrtausendwende auf sein erstes Lebensjahrzehnt nach der Wende zurückblickt, hat er nie eine sozialversicherungspflichtige Arbeit ausgeübt und ist auf beinahe groteske Art immer wieder auf die Füße gefallen. Seine Mutter war ungeplant schwanger geworden und hatte als taffe Ostfrau mit diesem Kind dem System eine Nase gezeigt. Michi war vielleicht einen Tick zu pflegeleicht. Er konnte schon als Kind gut mit Leuten umgehen und hätte nach dem Mauerfall etwas aus sich machen können. Stattdessen richtet der Sonnyboy sich in einer Rolle ein, in der stets andere die Verantwortung zu tragen und für einen gefüllten Kühlschrank zu sorgen haben. Mit Chris und Fabian führt Mick einen Club, der eine Goldgrube gewesen sein muss – wäre Mick nicht so blauäugig gewesen, wie er nun mal ist. Relativ früh habe ich mich gefragt, ob Micks wandelnde Dreistigkeit ein Erbe seines Vaters sein könnte, der sich drauf verließ, dass allein Frauen die Verantwortung tragen und er seiner Wege gehen kann. Ein Szenen- und Erzählerwechsel führt nach London, wo Idris Sohn Gabriel inzwischen erfolgreich als Architekt arbeitet. In Leipzig geboren und vom preußischen Großvater erzogen, findet Gabriel das britische Konzept von Ethnien und Kontinenten befremdlich. Für ihn als schwarzen Europäer halten Fragebogen zur Person keine Spalte bereit; er ist nicht vorgesehen. In der Ehe mit Fleur, die mit 14 mit ihren Eltern praktisch als Einwanderin aus Afrika nach England kam, muss Gabriel sich seiner Identität stellen, mit der er sich angeblich nie beschäftigt hat. Du wirst Identitätsfragen nicht entkommen, sagt Fleur. Hauttönungen sieht sie als Hierarchie, in der ihr eigener Hautton weit unten rangiert. Fleur wird zur Aktivistin, weil sie sich einer marginalisierten und diskriminierten Gruppe zurechnet. Zu Afrika hat Gabriel kein Verhältnis, hält der Fleur entgegen. Dennoch muss er aufgrund seiner Hautfarbe oft „die Frage“ beantworten, woher er kommt. Den unausgesprochenen Unterton kennen wir bis in die Gegenwart nur zu gut: Wann gehst du wieder dahin zurück? Als Leser begegnet man Gabriel im Moment seiner größten Niederlage, der ihn als arroganten, frauenfeindlichen Schnösel erscheinen lässt. Da Fleur und er einen pubertierenden Sohn haben, fragt sich auch bei Gabriel, wie ähnlich er seinem Vater ist und wie er als Star-Architekt selbst seine Vaterrolle ausfüllt. Beide Söhne wissen zu wenig über sich als Kind. Das allein gibt tiefen Einblick in die vaterlose Gesellschaft, die sie bis heute prägt, und das scheint das eigentliche Drama zu sein. Als Idris aus Dakar zu seinen Kumpels aus der Leipziger Studienzeit reist, kann er seine Selbstlügen nicht länger aufrechterhalten, warum er sich nie für seine Söhne interessiert hat. Jackie Thomaes Roman bezieht seine Spannung aus dem Kopfschütteln, Mick wäre sicher längst tot oder im Knast, wäre er keine Romanfigur, und aus der Hoffnung, die Ereignisse für Vater und Söhne möchten noch ein gutes Ende nehmen. Neben zahlreichen Varianten von Bruderschaft (Männerbünde, Ethnien) lässt Jackie Thomae Mütter und Partnerinnen ihres zentralen Bruderpaars als differenzierte Nebenfiguren auftreten. Gabriels Leipziger Großvater Loth mit seinem Glauben, die DDR wäre als Interimslösung geplant, vertritt als prägende und berührende Männerfigur die deutsche Nachkriegsgeschichte. Zu einem großen deutschen Roman wird das Buch für mich durch seine wechselnden Perspektiven und Tonlagen und die klare, kritische Sicht, mit der Fleur und Gabriel sich gegenseitig beschreiben. Thomaes Figuren haben mich gerührt, provoziert und viele Fragen aufgeworfen. Warum war es wichtig, Fleurs Hautfarbe zu erfahren, wird mir z. B. eindringlich in Erinnerung bleiben. Ein Roman, der m. A. hoch verdient auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht. Wie war dein Vater? Was bist du selbst für ein Elternteil? Wie geht Deutschland-Ost und -West mit seinen Kindern um?

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