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Buchdoktor

Posted on 1.1.2021

Jean Rhys „Die weite Sargosso-See“ erschien 1966 und erzählt von Antoinette, der Tochter eines Plantagenbesitzers auf Jamaika und einer Kreolin, die 1830 eher widerwillig einen älteren Briten heiratet. Über Schlangen und Kakerlaken muss der Zukünftige noch viel lernen und es scheint ausgeschlossen, dass er den auf Jamaika herrschenden Code je lernen wird. Die Vernunftehe einer kindlich wirkenden Hauptfigur gehört zu den Klassikern feministischer Literatur. Dieser Romanausschnitt (Mit traurigem Herzen) aus der Anthologie des Unionsverlags konnte mich noch nicht fesseln. Die Frage, wann die enthaltenen Texte entstanden sind, was über ihre Autorinnen bekannt ist und ob ihre Werke ins Deutsche übersetzt wurden, fand ich jedoch sehr spannend. Auch in „Hue heiratet“ der 1976 geborenen Nguyen Ngoc Tu geht es um eine Heirat und das Geschachere um Töchter, die aufgezogen werden, um sie möglichst lukrativ zu verheiraten. In „Hundertmal am Tag“ der 1963 geborenen Fariba Vafi will der Icherzähler Amir Rückhalt in einer Ehe finden, zugleich soll seine Traumfrau seinen Plänen nach Flucht und Veränderung nicht im Weg stehen. Würde es diese Frauen geben, würden sie vermutlich keinen schwachen Mann wie Amir heiraten, der dennoch in der Beziehung den Ton angeben will, sondern eigene Karrieren anstreben. Unterschiedliche Schauplätze, Autorinnen verschiedener Generationen - bis in unser Jahrtausend hinein scheinen Frauen auf Ihre Rolle als Ehefrau reduziert zu sein, in mehr oder weniger erzwungenen Beziehungen. Auf den ersten Blick wirken die Themen der enthaltenen Kurzgeschichten banal. Es sind jedoch zentrale Ereignisse im Leben der Figuren - Heirat, Affären, Altern, mehr oder weniger glückliche Schwangerschaften und ambivalente Gefühle von Müttern gegenüber ihren Kindern. Hervorstechend ist aus europäischer Sicht, dass meist Frauen auf überholten Normen beharren, die den Lebensweg der Töchter-Generation bestimmen. Beim genaueren Hinsehen treten vier Autorinnen aus verschiedenen afrikanischen Ländern hervor (Wicomb, Forna, Aidoo, Bugul) mit dem gemeinsamen Thema Bildungshunger, Auslandsstudium und Ambivalenz gegenüber einer Rückkehr nach Studienabschluss. Junge Leute müssen ins Ausland gehen, weil man in Afrika nichts über Afrika lernen kann, davon sind sie alle überzeugt. Sie sind dem Druck ausgesetzt, teure Geschenke aus dem Ausland mitzubringen und den Eltern durch ihre Karriere Ansehen zu verschaffen. Frauen erlangen bei Besuchen allerdings die deprimierende Einsicht, dass noch immer andere (u. a. weiße) Menschen Schönheitsideale definieren und Männer Macht und Ansehen erlangen für Dinge, die Frauen ebenso gut tun könnten (Bugul). Ken Bugul ragt mit ihrer Geschichte „Der Sandweg“ besonders heraus, die sich in der Du-Form an ihre 7-jährige Nichte richtet und eindringlich vermittelt, dass Frauen die Spielregeln für andere Frauen festsetzen. Die Bedeutung von Bildung liegt auch Achlam Bischarat (*1975) aus Bhutan in „Die Fragenmappe“ am Herzen, in der Ärger und Enttäuschung über die Mutter deutlich werden, die hinnimmt, dass Mädchen Hausarbeit machen, anstatt zur Schule gehen. Ihre Brüder dagegen lernen Lesen und Schreiben, können Gebete lernen und damit Zugang zur Religion erhalten. Für mich interessant war „Die Früchte“ von Han Kang (*1970) einem Vorläufer ihrer „Vegetarierin“, ein Text, mit dem ich die Autorin auf rund 25 Seiten kennenlernen konnte. Jean Rhys (*1890) ist die älteste in die Anthologie aufgenommene Autorin, Amanda Lee Koe (*1987) aus Singapur die jüngste Autorin. Einige Texte sind Auszüge, erstaunlich viele der Geschichten lagen bereits auf Deutsch vor und wurden „neu gesetzt“ für diese Ausgabe. Der Anteil neuer Texte liegt bei circa der Hälfte der Geschichten. Wie immer brilliert der Unionsverlag mit sorgfältig erstellten biografischen und bibliografischen Angaben zu Autorinnen und Übersetzerinnen, die Vergleiche zwischen Generationen und Kontinenten erst ermöglichen. Eine Anthologie, die erst auf den zweiten Blick mehr zu bieten hat, als Ehe, Kinder und Küche.

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