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Buchdoktor

Posted on 31.12.2020

Kerze hatte einen eigenen Kopf und hielt immer ihr Wort. Sie heisst so, weil sie in einer düsteren Umgebung für andere Menschen ein Licht sein kann. Erwachsene wussten, woran sie mit ihr waren. Als Hilde Nitschke, die Nachbarin, ihren Hund Power vermisst, beauftragt sie Kerze mit der Suche. Hitschke und Kerze wissen, wie sie sich gegenseitig einzuschätzen haben – und Kerzes Mutter weiß, dass ihre Tochter „Aufträge annimmt“. Normalerweise ging Kerze anderen Menschen keinen Schritt entgegen. Bei „Hitschke“ ist das allerdings anders; denn die Nachbarin ist gehbehindert. Kerze wird Power im Wald suchen, ihrem Revier, in dem sie früher ihre Angst erst überwinden musste. Für Hitschke scheint Powers Verschwinden eine tiefere Bedeutung zu haben; denn sie muss sich damit auseinandersetzen, warum sie allein lebt – und was andere über sie denken könnten. Kerze führt ihre Aufträge normalerweise allein aus, doch weil mehrere Kinder helfen wollen, bilden die Kinder ein Rudel für die Suche nach Power. Nicht unumstritten, gerät Kerze in eine Rolle als Rattenfängerin, in der sie Kinder in den Wald führt und ihren Familien entfremdet. „Dann ging Kerze zum Gartentor hinaus und die Kinder folgten ihr, …“ (Seite 112) Kerze wird selbst zum Hund, um sich in den vermissten Power einzufühlen. Die Kinder laufen mit Kerzes Anleitung auf allen Vieren, bellen, werden ebenfalls zu Hunden. Hitschke dagegen nimmt die Rolle der Versorgerin ein und füttert das Rudel. Als die Kinder einfach nicht zurückkehren, wird sie von den Dorfbewohnern für deren Verschwinden verantwortlich gemacht; denn ihr Power war schließlich der Auslöser. Verena Güntners Hauptfigur sticht zunächst damit hervor, dass sie mit ihrem neutralen Namen wie eine frisch vorbereitete Leinwand wirkt, die erst auf das Bemaltwerden wartet. So verweigert sie sich jeder Etikettierung. Weil sie in kein vorhandenes Bild passt, müssen Leser sie genau beobachten. Ein einzelner Satz kann hier eine ganze Geschichte erzählen. Allmählich entwickeln sich weitere Figuren, der Huberbauer, Markus, der Hubersohn, die über 100-jährige Lungeroma und Henne, der Nazi. Was wie eine Rattenfänger-Sage begann, geht über in Entfremdung zwischen den Dorfbewohnern, zwischen Eltern und Kindern. Kerzes Wald ist nicht so märchenhaft, wie das Titelbild vermuten lassen könnte. Im Dorf lauern Ereignisse, die bereits vor Kerzes Geburt stattfanden, es geht um Autorität und ihre Erhaltung, Grausamkeit in Familien und vieles mehr. Herausragend finde ich am im Präsens verfassten „Power“, wie ich als Leser das unbeschriebene Blatt "Kerze" mit eigenen Beobachtungen erst füllen muss. Ungewöhnlich.

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