Buchdoktor
Victor, der Icherzähler dieser berührenden Geschichte eines gesellschaftlichen Aufsteigers, findet bei seiner Rückkehr aus dem Urlaub einen Brief vor. Geschrieben hat eine ältere Person, deren Schrift schon zittrig wirkt. Victor empfindet eine Mischung aus Scham und Bedauern, als er die Unterschrift liest. Vermutlich hätte er längst Kontakt zum Absender aufnehmen sollen. Unterschrieben hat Patrick Lestaing, der Vater von Victors Schulkamerad Mathieu. Victor blickt nun 30 Jahre zurück, als er als einziger Schüler aus Nanterre nach Paris kam, um sich für die Vorbereitungsklasse einer Eliteschule zu qualifizieren. An Victor zieht das Schuljahr vorbei, als er erkannte, dass Leistung allein ihm noch keinen gesellschaftlichen Aufstieg verschaffen würde. Der Code, an dem sich die akademische Oberschicht erkennt, ist dem Jungen aus der Provinz ein Buch mit sieben Siegeln; die Kenntnis seiner Mitschüler über Musik und Kunst wird er vermutlich nie aufholen können. Ähnlich wie Mathieu im folgenden Jahr muss Victor sich damit abfinden, dass auch seine Klassenkameraden sehr gute Schüler sind und dass er sich einem knallharten Wettbewerb stellen muss um die ersten 12 Plätze an der Spitze der Klasse. Mathieu war ein Jahr jünger als Victor, besuchte eine Klasse unter ihm und sprang eines Tages mitten aus der Französisch-Stunde heraus in den Tod. Unterschätzt hatten beide Schüler sicher die gläserne Decke, die sich zwischen ihnen als Außenseitern und den Schülern aus wohlhabenden Verhältnissen spannt. Schüler wie Victor schaffen es normalerweise nicht auf die Liste, so dass seine Mitschüler sich erst gar nicht die Mühe machen, ihn kennenzulernen. Mathieus Selbstmord hätte die Frage nach der Verantwortung von Schule und Lehrern aufwerfen müssen, doch die Schule schließt sofort die Reihen, angeblich, um die Karriere der zukünftigen Elite nicht zu gefährden. Inzwischen ist Victor Lehrer und hat offenbar erfolgreich mehrere Romane eröffnet. Der Brief von Patrick Lestaing konfrontiert ihn mit der engen Beziehung, die er lange Zeit mit dem verwaisten Vater des Jungen pflegte, der sein Freund hätte werden können. Ob Victor die Zuneigung des Monsieur Lestaing erwiderte, blieb für mich offen. Jean-Philip Blondel legt hier das bewegende Psychogramm zweier Männer vor, die sicher eine Portion Kritik an der Schinderei in französischen Elite-Gymnasien auszusprechen hätten. „Winter in Paris“ passt perfekt in die Reihe von Romanen aus jüngster Zeit über gesellschaftliche Aufsteiger, die vor geschlossenen Reihen des Bildungsbürgertums stehen (Vance: Hillbilly-Elegie; Eribon: Rückkehr nach Reims; Louis: Das Ende von Eddy) und beeindruckt als Text, der perfekt ist, weil man nichts mehr weglassen kann.