DasIgno
Ein Hashtag lässt die brodelnde Welt eskalieren: #killtherich. Von Brasilien aus breitet sich eine Welle von Massenprotesten aus, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Regierungen werden gestürzt, immer mehr Videos von gewaltsamen Übergriffen seitens Staatsmächten heizen die Stimmung an. Ein junger Chauffeur wird in Brasilien plötzlich zum Hoffnungsträger. Conrada van Pauli arbeitet in leitender Position beim EAD, dem diplomatischen Dienst der EU. Als Expertin für Verhandlungen versucht sie, die zusammenbrechenden Staaten auf einen Kurs zu bringen, der Bürgerkriege verhindern könnte. Doch sie hat mächtige Gegner … nicht nur in den Regierungen, auch die Wirtschaft zieht hinter den Kulissen ganz eigene Fäden. ›Die Diplomatin‹ – ursprünglich erschienen als ›#killtherich‹ – ist der Debütthriller von Lucas Fassnacht und um das gleich mal vorweg zu nehmen, weil ich nachher einiges kritisieren werde, als rein fiktionaler Thriller ist das Buch wirklich ziemlich super. Fassnacht strickt, ausgehend vom rechtsdriftenden Zustand der Welt und dem zunehmenden Ungleichgewicht zwischen arm und reich, ein dystopisches Szenario eskalierender globaler Unruhen. Dabei lässt er zahlreiche oft kurze Handlungsstränge aufeinander zu laufen, um die unterschiedlichen Reaktionen der Staaten sichtbar zu machen. Im Verlauf des Buches rücken so immer wieder neue Figuren unterschiedlich lange ins Zentrum des Geschehens. Eine beständige Rolle nehmen dabei Conrada van Pauli und der indische Journalist Bimal Kapoor ein – sie für den Handlungsstrang der Unruhen, er für den der Wirtschaftsverschwörung. Die beiden sind wohl auch die Figuren, denen Fassnacht die meiste Tiefe verleiht. Über Rückblenden auf ihre Vorgeschichten versucht Fassnacht das für weitere Figuren aufzufangen, stellenweise gelingt ihm das auch recht gut. Gut gefallen hat mir auch die organisatorische Einbettung in die Realität. Fassnacht übernimmt nicht nur zahlreiche, allgemein wahrscheinlich weniger bekannte multinationale Organisationen und Teile ihrer nachgeordneten Strukturen. Das betrifft insbesondere außenpolitische und nachrichtendienstliche Strukturen der EU, die UN und die UNASUR. Dazu kommen zentrale Figuren aus der Realität – neben Regierungschefs vor allem Federica Mogherini, die frühere Hohe Vertretern der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, die insofern eine Sonderrolle einnimmt, dass sie innerhalb der fiktiven Handlung eine aktive Rolle inne hat. Die organisatorische passt sich dabei ganz gut in die inhaltliche Komplexität ein. Gerade vor dem Hintergrund, dass es sich bei ›Die Diplomatin‹ um ein Debüt handelt, ist die doch unerwartet umfangreich. Ich komme zur Kritik. Zunächst etwas konzeptionelles, das ich unter Geschmackssache ablege. ›Die Diplomatin‹ ist Gegenwartsliteratur und beschäftigt sich entsprechend mit in hohem Maße aktuellen Problemen. Damit meine ich nicht weltweite Protestwellen mit tatsächlichem Gefahrenpotential für die Systeme, sondern die wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen Missstände dahinter. Die Ausgangslage für Fassnachts Szenario ist die Realität. Das mag ich an kritischer Gegenwartsliteratur prinzipiell sehr, weil es die Möglichkeit bietet, auch mal unkonventionelle Lösungsansätze durchzuspielen. Fassnacht macht das beispielsweise mit José Colasanti und leider nur im Ansatz über die Konzepte von ihm, Conrada und Prof. Auenrieder. Darauf könnte man stärker aufbauen, das passiert aber nicht. Schade. Stattdessen konzentriert sich ›Die Diplomatin‹ darauf, ein turbulentes aber leider in seiner Komplexität ziemlich unwahrscheinliches Szenario aufzubauen. Eine weltweite Protestbewegung, die reihenweise Regierungen stürzen kann und zahlreiche Bürgerkriege entfesselt alleine ist schon recht unwahrscheinlich. Dass zeitgleich auch noch Beweise für eine globale Verschwörung universellen Ausmaßes – einen globalen Deep State quasi – auftauchen, mit denen man die komplette Verschwörung und ihre Beteiligten enttarnen könnte, finde ich schade, weil es mir die Lösungsansätze zu sehr ins Fiktionale verlegt. Damit wir uns nicht falsch verstehen, das macht das Buch nicht schlechter, es macht es nur fiktionaler, wo es Potenzial hätte, die Realität zu diskutieren. Ein anderer Punkt geht einher mit Content Warnungen: ›Die Diplomatin‹ enthält inzestuös-/sexualisierte Szenen, Folterszenen, Polizeigewalt und – sehr plastisch – rassistische Gewalt. Im Zusammenhang mit Letzterer fallen auch einige rassistische Wörter, u.a. das N-Wort. Dies findet immer in negativ konnotiertem Kontext statt, insofern ist wenigstens die Verurteilung implizit. Dazu kommt Sexismus ggü. Frauen und der wird, jedenfalls im Gesamtbild, nicht immer von negativ konnotierten Figuren praktiziert. Darauf sollte man leider gefasst sein. Zusammengefasst empfand ich ›Die Diplomatin‹ als ziemlich gelungenes Debüt, wenn man mit einem rein fiktionalen Anspruch an das Buch geht – es ist Fiktion, also sollte man das wohl. Der Thriller ist komplex und im Ansatz ganz gut in die Realität eingebunden, thematisch ist er hochaktuell. Mich hat er jedenfalls neugierig auf mehr gemacht.