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Buchdoktor

Posted on 26.12.2020

Stell dir vor, ein Familienangehöriger wird Opfer einer Gewalttat und niemand fühlt sich für die Beweismittelsicherung und die Verfolgung des Täters zuständig. So passiert es dem jungen Indianer Joe, dessen Mutter brutal vergewaltigt und misshandelt wird und der als Icherzähler die Ereignisse im Rückblick Revue passieren lässt. Die Tat geschieht an einer abgelegenen Stelle, so dass Joe und sein Vater befürchten müssen, der Täter könnte ein Stammesangehöriger sein. Ob der mögliche Tatort auf Stammesgebiet, öffentlichem oder privatem Grund liegt, entscheidet darüber, ob und von welcher Behörde ermittelt wird. Joes Vater trifft es als Richter innerhalb seines Stammes besonders tief, dass die Justizorgane der Weißen an der Verfolgung von Gewalttaten auf Stammesgebiet kaum Interesse haben. Der Vater will seinen Sohn zwar möglichst vor den belastenden Einzelheiten der Tat schützen, doch es ist nicht zu übersehen, dass Joes Mutter sich völlig in sich zurückzieht und dabei ist, sich zu Tode zu hungern. Wie ihr Mann war die Mutter vor dem Verbrechen als Expertin für Abstammungsfragen eine Stütze ihres Stammes. Da von der Stammeszugehörigkeit nicht nur die indianische Identität abhängt, sondern ebenfalls, wer welchen Grund erben oder nutzen darf, wäre denkbar, dass die Tat in Zusammenhang mit dem Amt der Mutter steht. Nicht viel anders wie bei einem kindlichen Detektivspiel beginnt Joe, sich in die Denkweise des möglichen Täters zu versetzen und nach Beweismitteln zu suchen. Die Gewalttat selbst nimmt in Erdrichs Roman nur geringen Raum ein. Dafür beschreibt sie intensiv und gefühlvoll die Wirkung der Tat auf die Angehörigen, die Bedeutung der Strafverfolgung für das psychische Überleben des Opfers und die speziellen Verhältnisse in einem Indianerreservat. Die verschiedenen Ebenen werden mithilfe Erdrichs außergewöhnlicher Beobachtungsgabe geschickt miteinander verwoben. Sie lässt ihre Figuren nicht einfach durchs Gras gehen oder sich hinter einem Gebüsch verbergen, man erfährt immer, um welche Pflanzen es sich exakt handelt. Diese Sorgfalt in Details mag ich in Romanen sehr. Auch indianische Legenden, die dem eigenen Volk und außenstehenden Lesern indianische Kultur vermitteln, sind in die Geschichte eingearbeitet. Zu guter Letzt lässt sich “Das Haus des Windes“ auch als sehr berührender Entwicklungsroman eines Dreizehnjährigen lesen. Vielleicht ist es Erdrichs feine Ironie, mit der sie das Indianersein der Gegenwart betrachtet, die den Zugang zu den Emotionen ihrer Figuren für ihre Leser so leicht macht. Louise Erdrichs Botschaften erreichen ihre Leser auf leisen Sohlen. In ihrem Nachwort erinnert die Autorin daran, dass sich seit 1988, dem Jahr der geschilderten Ereignisse, bis zum Erscheinen der Originalausgabe des Buches 2012 in den USA kaum etwas an der öffentlichen Wahrnehmung und juristischen Verfolgung der Gewalt gegen indianische Frauen geändert hat. ------ Zitate „Er [Joes Vater] brachte einen Strauß Blumen aus dem Garten mit, den sie noch nicht gesehen hatte. Er stellte sie in eine kleine handbemalte Vase. Ich betrachtete den grünen Himmel auf dieser Vase, den Weidenbaum, das schlammige Wasser und die ungeschickt gemalten Steine. Diese ganze glasierte Szene sollte ich während der nächsten Abendessen mehr als gründlich kennenlernen, weil ich meine Mutter nicht ansehen mochte, wenn sie uns, auf Kissen abgestützt, so leblos anstarrte, als sei sie gerade erschossen worden, oder sich einrollte wie eine Mumie, die sich längst ins Jenseits verabschiedet hatte. Mein Vater versuchte jeden Abend, ein Gespräch in Gang zu halten, und wenn ich meine schmale Tagesration an Erlebnissen aufgebraucht hatte, gab er nicht auf, ein einsamer Ruderer auf dem endlosen See des Schweigens, oder vielleicht ging es sogar stromaufwärts. Ich bin fast sicher, dass ich ihn in dem kleinen schlammigen Flüsschen auf der Vase habe paddeln sehen.“ (S. 181) „Aber als ich die Tür aufmachte und die neben dem Bett eingezwängte Nähmaschine sah, die Stapel gefalteter Stoffe und das Wandbrett mit Hunderten von leuchtenden bunten Garnrollen, als ich die Quiltstoffe sah und den Pappkarton mit der Aufschrift Reißverschlüsse und das gleiche herzförmige Nadelkissen wie zu Hause, bloß dass das von meiner Mutter mattgrün war, musste ich an meinen Vater denken, wie er jeden Abend in die Nähstube ging, wie die Einsamkeit unter der Tür der Nähstube durchgekrochen war und versucht hatte, über den Flur bis in mein Zimmer zu kommen. Ich fragte Clemence: Meinst du es würde Mooshum stören, wenn ich bei ihm penne?“ (S. 214)

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