Buchdoktor
Marnie und Nelly haben ihren toten Vater im Garten vergraben und die Leiche ihrer Mutter versteckt. Damit das Jugendamt nicht auf die beiden allein lebenden Jugendlichen aufmerksam wird, müssen sie den Tod der Eltern verheimlichen und nach außen ein möglichst normales Leben inszenieren. Beide Mädchen waren schon einmal im Heim. Vor einer Wiederholung dieser Erfahrung will Marnie die jüngere Nelly dringend schützen. Marnie musste schon als kleines Mädchen die Hausarbeit erledigen und ihre jüngere Schwester betreuen. Da die Mädchen schon immer von den Eltern vernachlässigt wurden, wird es kaum auffallen, wenn die "Totalausfälle" von Eltern angeblich verreist sind. Izzy und Gene haben gesoffen, gekifft, das Haus vermüllt. Mindestens eine der Töchter wurde sexuell missbraucht. Vermutlich würde die Scheinwelt der Schwestern schon bald entdeckt, wenn nicht der Nachbar Lennie die Mädchen versorgen würde. Lennie ist alt und nach dem Tod seines Lebenspartners einsam. Er geht darin auf, für die Mädchen zu kochen und ihnen ein schönes Zuhause zu schaffen. Die Zweckgemeinschaft mit Lennie kann nur so lange gutgehen, wie der Sozialhilfescheck regelmäßig kommt, Marnie und Nelly sich nicht verraten und niemand ernsthaft nach Gene und Izzy sucht. Marnie, für ihr Alter deprimierend erfahren in den Abgründen von psychischer Krankheit, Sucht und Drogenhandel, mimt die fürsorgliche ältere Schwester. Nelly nimmt im Team der beiden die Rolle des Sonderlings ein. Sie spielt Geige, sorgt sich um den Zustand der Welt und das Bienensterben und drückt sich so geschraubt aus, als hätte sie ein Wörterbuch verspeist. Falls diese Rollenverteilung aus dem Takt geraten sollte, wäre das Arrangement mit Lennie bedroht. Kurz nacheinander taucht zuerst Mick bei den Schwestern auf, der mit Gene Geschäfte gemacht hat, sowie ein Mann, der behauptet, der Großvater der Kinder zu sein. Marnie misstraut dem angeblichen Opa zutiefst; sie ist überzeugt, dass man ihn besser nicht mit Nelly allein lassen sollte. Die groteske Ausgangssituation mit zwei Leichen war offenbar noch nicht der Tiefpunkt im Leben der vernachlässigten Schwestern, sondern erst der Anfang vom Ende. Lisa O'Donnell lässt Marnie, Nelly und Lennie jeweils aus ihrer Sicht die mehr als krassen Ereignisse beschreiben. Alle drei beschönigen dabei die Tatsachen und klammern sich an ihre Sicht der Dinge. Vernachlässigte Kinder können aufgrund ihrer Erfahrung die Welt nur durch die Brille von Kiffen, Saufen und Vernachlässigung beurteilen, muss der Leser ziemlich schnell einsehen. Bei den Figuren des Buches und auch beim Leser macht es mehrmals deutlich "Klick", wenn Schein und Realität sich voneinander trennen und wieder eine Hoffnung auf ein Happy End für die Mädchen den Bach runtergeht. Fiktion sind deprimierende Schicksale wie die von Marnie und Nelly leider keine. Die individuelle Sprache der unterschiedlichen Schwestern macht Bienensterben zu einem beeindruckenden Leseerlebnis.