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Buchdoktor

Posted on 25.12.2020

In Familien von Holocaust-Überlebenden kann theoretisch niemand etwas wirklich Schlimmes widerfahren; denn was könnte schlimmer sein als die Erinnerungen der Überlebenden? Lilli floh als junges Mädchen nach Palästina, ihre Familie überlebte den Holocaust nicht. Ihr Leben lang wird Lilli der Gedanke belasten, dass sie sich vor ihrer Abreise nicht mehr von ihrem Vater verabschieden konnte. Während sich in der Gegenwart ein weiterer Krieg um Israel ankündigt, ängstigt sich die zunehmend verwirrte Lilli um ihre erwachsene Enkeltochter. Inbar will für ein paar Tage ihre Mutter Hanna und deren deutschen Lebensgefährtin in Berlin besuchen. Lillis Misstrauen gegen die Deutschen lässt sich selbst mit der Information nicht zerstreuen, dass Hannas Partner Bruno während des Nationalsozialismus erst drei Jahre alt war. Nach Berlin kann ein Isaeli unter keinen Umständen fahren, statt der Juden würden die Deutschen jetzt Türken und Ostdeutsche hassen, bemängelt Lilli. Inbars konfliktreiches Verhältnis zu ihrer Mutter bessert sich während des Kurzurlaubs nicht, beide scheinen mit ihren Streitereien noch in der Zeit von Inbars Pubertät stecken geblieben zu sein, obwohl Inbar mittlerweile dreißig Jahre alt ist. Aus der aufgeheizten Situation heraus bucht Inbar spontan einen Flug nach Südamerika anstatt nach Israel zurückzukehren. Peru und Ecuador sind beliebte Reiseziele für junge Israelis, um nach der Armeezeit kräftig über die Stränge zu schlagen. Inbars Wege kreuzen sich mit denen Doris, der ebenfalls die Last seiner Vorfahren zu tragen hat. Doris Vater Meni wurde im Yom-Kippur-Krieg (1973) schwer traumatisiert, für seine Kinder war diese Tatsache nicht leicht zu begreifen. Nach dem Tod seiner Frau bricht Meni aus seinem alten Leben aus und macht sich wie die jungen israelischen Backpacker auf den Weg nach Ecuador. Da Meni sich seit zwei Monaten nicht mehr bei seinen Kindern gemeldet hat, will Dori seinen Vater mit der Hilfe eines einheimischen Detektivs suchen. Alfredo, spezialisert auf Verschollene, deren Angehörige und die Bergung von toten Abenteurern hat mich sofort in das Buch hineingezogen. Alfredo hat nie eine Schule besucht und sich als Waise zunächst als Schuhputzer durchgeschlagen. Inzwischen übt der Mann seinen Beruf mit modernen Hilfsmitteln und psychologischem Feingefühl aus, knüpft seine Netzwerke aus Informanten aber noch immer wie ein Mitglied der Schuhputzer-Gemeinschaft. Zu Alfredo kommen Eltern aus aller Welt auf der Suche nach ihren verschollenen Kindern. Er ist der richtige Mann, um die Gringos zum Sprechen und damit erst einmal zum Herunterschalten zu bringen. Das Auftreten all dieser Fremden fügt sich in Alfredos Vorstellung zu einem sehr eigenwilligen Bild ihrer Herkunftsstaaten. Wie sich die Schicksale von Dori Peleg, Inbar Benbenisti und ihren Familien schließlich miteinander verbinden, erzählt Eshkol Nevo auf mehreren Zeitebenen und mit einer beachtlichen Zahl von Figuren. Die Geschichte ist fest mit historischen Ereignissen rund um den Staat Israel verwoben, lässt sich jedoch auch unabhängig davon als reiner Familienroman lesen. Nevo zeigt sich in der Darstellung der Gemütszustände seiner Figuren als großartiger, feinfühliger Erzähler. In den Grundkonflikten zwischen Großmutter-Mutter-Tochter und Großvater-Vater-Enkel werden sich viele Leser wiedererkennen können. Ohne Lillis Flucht aus Polen gäbe es in der Gegenwart keine reisende Inbar. Seine Allgemeingültigkeit macht Nevos Gleichnis vom reisenden/wandernden Juden zu einem großen, generationenübergreifenden Roman.

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