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Buchdoktor

Posted on 22.12.2020

Kaum zu glauben, dass ich Susanne Gogas Krimis zunächst übersehen habe, die in Berlin 1922 während der Zeit der Inflation beginnt. Charakteristisch für diese Zeit sind die Schupos, die damals noch zu Fuß Streife gingen, und die strenge Trennung zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Die junge Demokratie ist erst wenige Jahre alt und die Gesellschaft scheint sich seit dem Kaiserreich noch nicht verändert zu haben. Aus der gesellschaftlichen Hierarchie sind die ständigen Konflikte zwischen Kommissar Wechsler, der aus einfachen Verhältnissen stammt, und seinem Mitarbeiter von Malchow zu erklären, dessen Familie zu den "Landjunkern" gezählt wird. Wie sich die inflationäre Preisentwicklung im Alltag auswirkt, wenn der Lohn aus der Lohntüte am folgenden Tag gerade noch für ein Brot reicht, schildert die Autorin glaubwürdig, ohne dass ich mich beim Lesen von historischen Details belehrt gefühlt habe. Das Jahrzehnt, in dem auch der zweite Fall für den Ermittler Wechsler spielt, hat Sussanne Goga für mich sehr anschaulich zum Leben erweckt, indem sie Wechslers Alltag als verwitweter Vater von zwei kleinen Kindern beschreibt. Die Realität war in dieser Zeit erheblich härter, als die Handlung ahnen lässt, Kinder gingen hungrig zur Schule, weil das Geld eben nicht für mehr als ein Brot gereicht hatte. Wechslers Lebensstandard in einer Wohnung mit mehreren Zimmern und Telefon, seine spontanen Lustkäufe und auch der gigantische Kaffeekonsum der Ermittler wirken selbst für ein Beamten-Einkommen vergleichsweise luxuriös, während die sonntägliche Fahrt nach Spandau in den Schrebergarten von Wechslers Kollege wiederum mitten aus dem Leben jener Zeit gegriffen ist. Im ersten Band wird mit der Buchhändlerin Clara Bleibtreu eine interessante Nebenfigur eingeführt, die Lust auf den folgenden Wechsler-Krimi weckt. Um einen Fall aufzuklären, muss man die Milieus verstehen, verkündet Wechsler in seiner bescheidenen Art. Dass Susanne Goga in den bisher erschienenen Bänden das Verständnis ihrer Leser für die sehr unterschiedlichen Milieus weckt, in denen Ermittler, Täter und Opfer leben, macht die besondere Qualität ihrer Leo-Wechsler-Krimis aus. (9.12.2011)

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