Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 22.12.2020

Zum Inhalt Was gerade mit Mathilde passierte, konnte sie nur mit ihren heranwachsenden Söhnen besprechen; es Außenstehenden mitzuteilen, war für Mathilde völlig unmöglich. Sowie ihr ältester Sohn in die Vorschule eingeschult wurde, hatte sich die früh verwitwete Mathilde um eine Stelle beworben. Jacques gegenüber, der sie für den verantwortungsvollen Job in einem internationalen Nahrungsmittelkonzern eingestellt hatte, fühlte sie sich seit jener Zeit zu besonderer Loyalität verpflichtet. Nachdem Mathilde ihrem Chef bei der Präsentation einer Kundenumfrage öffentlich widersprochen hatte, wird sie von ihm geschnitten. Ihre Aufgaben erhält Mathilde nur noch auf unpersönlichem Weg. Jacques entzieht sich jedem Versuch eines Gesprächs, kontrolliert Mathilde, kritisiert sie aus banalsten Anlässen. Jacques mobbt Mathilde. Wenn ihr ständig erklärt wird, sie sei erschöpft, sei eine schwierige Kollegin, wird Mathilde bald wirklich erschöpft oder schwierig sein. Mathilde behandelt Jacques zunächst nachsichtig als sei er ein übel gelauntes Kind, versucht durch besonderen Fleiß ihre Situation zu verbessern. Doch schon bald ist nicht zu übersehen, dass sich Mathildes Kollegen von ihr zurückziehen. Statt der besonderen Begegnung mit einem Mann, die Mathilde von einer Wahrsagerin prophezeit wurde, sitzt eine Praktikantin an Mathildes Abeitsplatz. Mathilde muss in ein fensterloses Kabuff direkt neben den Toiletten umziehen; ihr Zugang zu den Firmendaten ist blockiert. Ihre Kollegen sehen betreten zur Seite, niemand wagt, sich auf ihre Seite zu stellen. So kann es nicht weitergehen. Auch in Thibaults Leben muss sich dringend etwas ändern. Der junge Arzt arbeitet als angestellter Notarzt. Thibault hetzt von einem Einsatz zum anderen durch den Großstadtverkehr, erledigt die Galeerenjobs, die unangenehmen Aufträge. So manches Mal wird er von alten oder einsamen Menschen gerufen, die seit Wochen mit niemandem mehr gesprochen haben. An seinen freien Wochenenden trifft Thibault sich mit Lila, die sich ihm hingibt, ohne ihn zu lieben. Thibault müsste sich endlich von Lila trennen. Thibault und Mathilde sind jeder in seiner Weise in einer düsteren Ecke der französischen Metropole eingesperrt (der Originaltitel lautet Les heures souterraines, die Stunden unter der Erde). Mathilde ist auf besondere Art mit der Welt der Tunnel und Unterführungen verbunden. Sie fürchtet in der ohnehin gespannten Situation, morgens den Zug zu verpassen und zu spät zu kommen. Thibault wird regelmäßig zu Notarzteinsätzen in die U-Bahn gerufen. Werden die Wege des Notarztes und der im Beruf kaltgestellten Mathilde sich kreuzen? Könnte Thibault die besondere Begegnung sein, die Mathilde prophezeit wurde? Fazit Delphine de Vigan zeigt in "Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin" ihr Talent, alltägliche Ereignisse in eben dem Moment zu schildern, in dem beinahe unmerklich die Normalität in eine Katastrophe umzukippen droht. Die Summe der Kleinigkeiten, die sich erst in der Menge als bösartig erweisen, die Alltagsroutine, die sich wie ein ein unüberwindlicher Berg vor den Protagonisten auftürmt, vermittelt de Vigan meisterhaft. Thibault meint an dem geschilderten besonderen Tag im Mai, alles habe sich gegen ihn verschworen. Mathilde hat sich durch den Zuspruch ihrer Freundin Laetitia darin bestätigt gefühlt, dass "es aufhören muss". Wie Mathilde durch die Isolierung am Arbeitsplatz jede Lebensfreude verliert, was Mobbing für den Betroffenen bedeutet, auch wie zermürbend die tägliche Routine für Thibault wirkt, bringt die Autorin uns mit knapp gesetzten Worten nahe. In ihrem kurzen Text lässt de Vigan die Gefühlswelt ihrer Figuren verblüffend lebendig werden.

zurück nach oben