Buchdoktor
Jesper Juul ist als Therapeut und Buchautor u. a. so erfolgreich, weil er Konflikte zwischen Kindern und Erwachsenen für jedermann verständlich beschreiben kann. Seine Fähigkeit, ein Problem klar zu benennen, ist bereits der erste Schritt zu dessen Lösung. Wer hat das Problem, wenn ein Kind sich aggressiv verhält?, fragt Juul und antwortet lapidar: Die Erwachsenen und das Kind. Den Umgang Erwachsener mit kindlicher Aggression sieht der Familientherapeut als Tabu moderner Gesellschaften. Fragen wir Kinder doch einfach, warum sie so wütend oder frustriert sind, dass der Topf ihrer Emotionen überkocht, regt Juul an. Die Wut von Kindern moralisch zu bewerten oder sie zur Strafe aus einer Gruppe auszuschließen, betrachtet er dagegen als unprofessionell, gar als Vernachlässigung der Kinder in Betreuungs-Institutionen. Moralische Urteile über kindliche Wutausbrüche sind laut Juul unzulässig, da der Mensch weder gut noch böse sei. Eine konstruktive Reaktion auf kindliche Aggression erfordere kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit. Juuls kurzer Text ermutigt aufgeschlossene Leser, nicht das wütende Kind per psychiatrischer Diagnose zum therapiebedürftigen Probemfall zu erklären, sondern sich zunächst mit der eigenen latenten Aggression auseinanderzusetzen. Kinder rasten häufig aus, weil sie an ihre Grenzen gestoßen sind oder zwischen Wut und Traurigkeit noch nicht zu unterscheiden gelernt haben. Ihr aggressives Verhalten ist eine Aufforderung zum Gespräch, die Botschaft lautet: Ich fühle mich nicht gut. Ein wütendes Kind ist laut Juul kein Fall für den Psychiater. "Antisoziales Verhalten drückt Hoffnung eines deprivierten Kindes aus," zitiert Juul Donald Winnicott (1988). Als Familientherapeut hat der Autor in verschiedenen Ländern beobachtet, wie Erwachsene Aggressionen unterdrücken oder tabuisieren, die ihnen selbst Angst machen. Häufig wird geschlussfolgert, Aggression führe zu Gewalt, Gewalt führe zu Krieg und deshalb seien Aggressionen unter Kindern unbedingt zu verhindern. Solange Aggression tabuisiert wird, kann Selbsterkenntnis und Empathie sich nicht entwickeln, warnt Juul. Jesper Juul beurteilt Betreuungseinrichtungen für Kinder äußerst kritisch. Er sieht sie als Kunstwelten, die Risiken und Kritik möglichst ausschließen und Kinder unter dem geltenden Konformitätsdruck an wichtigen sozialen Erfahrungen hindern. Grund für diesen Zustand sei eine Politik, die allein die Zeitspanne bis zur nächsten Wahl im Blick habe. Eltern und Pädagogen sieht Juul gefangen in überholten Rollen, so dass sie Kindern kaum Vorbilder sein könnten. Auch das in die Kritik geratene "Grenzen setzen" sieht Juul kritisch, es maskiere die Aggression Erwachsener als Sorge oder sei eine bemäntelte Bestrafung. Besonders zwei Überlegungen aus Juuls Buch haben mich zum Umdenken beim Thema kindliche Agression angeregt. Ein herausragender Gedanke ist das Kindern und Erwachsenen gemeinsame starke Motiv, das Leben anderer bereichern zu wollen. Es ist häufig der Anstoß einen sozialen Beruf zu wählen. Die Botschaft "nicht wertvoll" zu sein - die wir aussenden, wenn wir Aggressionen bei Kindern sanktionieren - frustriert und zerstört das Selbstbewusstsein. Nachdenklich hat mich Juuls Definition von Strukturen gemacht, die Mobbing dulden. Mobbing-Prozesse an Schulen und Kitas sind laut Juul nicht zu lösen, indem Kinder als verhaltensauffällig diagnostiziert werden. Mobbing sieht er als Zeichen von Führungsschwäche einer Schulleitung, die den bequemeren Weg suche. Gerade Eltern, die in der Erziehung für ihr Kind das Beste wollen, kann das schmale Buch anregen, über ihre persönliche Wertung von Aggression nachzudenken.