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Buchdoktor

Posted on 19.12.2020

Die erfolgreichste frühkindliche Förderung ist das Gespräch "Es gibt kaum mehr ein Elternpaar, das sein Kind nicht für besonders förderungswürdig hält", beklagt Salman Ansari den derzeitigen Frühförderwahn. Aus einem wissbegierigen Kindergartenkind würde jedoch zum Ende der Grundschulzeit zu oft ein enttäuschter Schüler mit Versagensängsten. Studeinanfängerzahlen zeigen, dass das im internationalen Vergleich geringe naturwissenschaftliche Interesse deutscher Schüler durch ein paar zusätzliche Experimente in Kitas und Kindergärten bisher nicht zu steigern war. Der Lernpädagoge kritisiert an den bisher halbherzigen Förderaktionen, dass der Dialog mit den Kindern dabei viel zu kurz kommt, das Weltbild von Kindern und die kindliche Logik kaum berücksichtigt würden. Bevor Kinder nicht beim Krabbeln, Laufen oder in der Natur Erfahrungen mit den unbewussten physikalischen Abläufen ihrer Bewegungen sammeln und eigene Vorstellungen formulieren können, warum manche Dinge sind wie sie sind, sei ein zeitliches Vorziehen von Schulstoff in die Kindergartenzeit sinnlos. Das vorzeitige Behandeln von Grundschulstoff mit Dreijährigen sieht Ansari äußerst kritisch, weil er den Großteil der bisher eingesetzten Fragestellungen für die Altersgruppe für ungeeignet hält. Unnützes Wissen oder Wissen im ungeeigneten Moment mache geistig unbeweglich. Kinder sollen laut Ansari nicht einüben und als Wissensvorrat für die Schule speichern, was Erwachsene als Antwort auf Fragen Erwachsener erwarten, sondern selbst nach Lösungen suchen lernen und ihr neu entdecktes Wissen mit ihren bisherigen Vorstellungen selbst vernetzen. Erwachsene hätten gegenüber Kinderfragen allein die Moderatorenrolle einzunehmen. Virtuelle Erfahrungen schalten dialogische Lernprozesse aus, warnt der Naturwissenschaftler übereifrige Eltern. Schnellen, wissenschaftlich korrekten Antworten wäre in der naturwissenschaftlichen Frühförderung zu misstrauen; denn unsere Gesellschaft bräuchte weniger Wissende und mehr flexibel reagierende Menschen, die schöpferisch gestalten wollen. Eltern, die die unmitelbare Umgebung für ihre Kinder als gefährlich erleben und falsch einschätzen, was ihre Kinder bereits allein bewältigen können, seien zur Zeit eines der größten Hindernisse für den natürlichen kindlichen Forscherdrang, so der Autor. Dass nicht das Experimentieren an sich im Mittelpunkt der Förderung naturwissenschaftlichen Denkens stehen sollte, sondern der Austausch mit anderen Kindern über deren Vorstellungen von unserer Welt, zieht sich wie ein roter Faden durch Ansaris Buch. Eine typische Ansari-Aktivität besteht folgerichtig darin, eine Frage zum Forschungsgegenstand zu erklären, die Kinder interessiert, und Kinder diese Fragestellung mit ihren Fähigkeiten untersuchen zu lassen. Welches Kind einer Gruppe kann am weitesten springen? Tritt dieses Ergebnis in allen Gruppen auf? Gibt es persönliche Merkmale als Grund dafür? Ansari setzt in seinen Workshops Wasser, Sand und Trockenartikel wie Bohnen ein. Gefragt ist in seinen Kindergruppen der Einsatz des ganzen Körpers, bei dem Kinder auch nass oder schmutzig werden können. Ansaris meist altersübergreifende Fördermaßnahmen unterscheiden sich von den üblichen Bildungsplänen durch seine aufrichtige Zuwendung den Kindern gegenüber und die Muße, mit der seine Teilnehmer experimentieren und beobachten können. Ansari bot seine Anregung zum naturwissenschaftlichen Denken in Gruppen ganztags fremdbetreuter Kinder an. Viele seiner Fragestellungen eignen sich nicht für zuhause, weil sie sich an Gruppen richten oder recht aufwändig sind. Trotzdem wünsche ich mir, dass wieder mehr Gespräche mit Kleinkindern über Marienkäfer oder Regenwürmer in den Familien geführt und nicht automatisch an Betreuungsinstitutionen delegiert werden. Sehr beeindruckend in diesem Zusammenhang Ansaris erste Erinnerungen an die Käferstudien seines Bruders! Eindrucksvoll legt Ansari dar, dass man es mit frühkindlicher Förderung sehr wohl übertreiben kann. So weigerte sich eine Kindergruppe beharrlich, mit ihm über "Luft" zu sprechen, weil das Thema ihrer Ansicht nach in der Kita schon abgehakt worden war (S. 188/189). Bildungspolitikern sollte zu denken geben, wenn der Autor berichtet, wie sich Hauptschüler von Schülern anderer Schultypen bei den Aktivitäten nicht in ihrer Intelligenz unterschieden, sondern in ihrem auffallend geringen Selbstbewusstsein und ihrem Unglauben, dass sich jemand aufrichtig für ihre Gedanken interessieren könnte. Ansaris lebenskluges Buch lässt sich auch von pädagogischen Laien zügig lesen. Eltern sollten sich von Salman Ansari ermutigt sehen, sich wieder stärker auf ihren gesunden Menschenverstand zu verlassen, Kindern ihr eigenes Entwicklungstempo zuzugestehen und sich selbst für die Sprachentwicklung als Grundlage jedes weiteren Lernens zuständig zu fühlen. Wer, verunsichert von der Frühförderwelle, fürchtet, das eigene Kind könnte etwas verpassen, dem lege ich besonders das letzte Kapitel ans Herz. Salman Ansari konzentriert sich darin mit großer Wertschätzung für die Arbeit im Kindergarten auf das wirklich Wichtige, die Gemeinschaft, in der Kinder lernen andere zu respektieren und Anteil an deren Gedanken zu nehmen.

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