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Buchdoktor

Posted on 18.12.2020

Ein Vater kocht für seine Familie. Er wäscht den Reis, sammelt ein paar kleine Körner heraus, füllt den Reis in einen Topf und bedeckt ihn mit Wasser. Das Wasser muss bis zum ersten Knöchel seines auf den Reis gesetzten Zeigefingers reichen, damit der Reis genau dann gar sein wird, wenn das Wasser verdunstet ist. Die Erzählerin der Geschichte hat diese täglichen Handgriffe als Kind immer wieder beobachtet. Sie selbst wird diese Hingabe an eine einfache Tätigkeit nicht lernen, wie sie auch die Muttersprache der Eltern nicht lernen wird, die als Flüchtlinge aus Malaysia nach Kanada gekommen sind. Die Routinetätigkeit scheint nicht wichtig genug, um sie zu erlernen, vielleicht isst man in Kanada auch keinen losen Reis. Über den beschriebenen Vater und seine Familie würde ich am liebsten hunderte von Seiten lesen. Hätte ich nicht Madeleine Thiens Romane schon gekannt, hätte sie mich mit dieser Beschreibung sofort am Haken gehabt. Thiens Figuren sind Jugendliche und junge Erwachsene, deren Eltern als Immigranten aus Asien in einem neuen Land nie vollständig heimisch werden. Ihre Heimatlosigkeit kommt als Entfremdung und Hilflosigkeit gegenüber den Kindern zum Ausdruck. In einer Geschichte schwebt die Angst vor Gewalt und Missbrauch drohend über einer Freundschaft zwischen Jugendlichen. Ein Mädchen leidet unter der langen Abwesenheit des Vaters, der monatelang in fernen Wäldern als Holzfäller arbeitet. Sie und ihre Schwester hoffen, dass alles besser sein wird, wenn sie selbst älter sind, und erkennen, dass der Vater dieses Leben auf sich nimmt, um auch ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Durchgehendes Thema der Erzählungen sind Erwartungen von Einwanderern an ihre Kinder, endlich die Träume ihrer Eltern nach einem besseren Leben zu erfüllen und die Einsamkeit dieser Kinder. All das ist fein beobachtet und atmosphärisch dicht niedergeschrieben.

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