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Buchdoktor

Posted on 18.12.2020

Alice Kelleher räumt aus dem Ferienhaus der Familie, was sich im Laufe von sechzig Sommern angesammelt hat. Die Patriarchin einer streng katholischen irisch-stämmigen Familie ist mit über achtzig Jahren eine der letzten Vertreterinnen ihrer Generation. Das Grundstück an der Küste von Maine erlangte Alices Mann kurz nach dem Krieg durch einen glücklichen Zufall. Inzwischen ist es Millionen wert. Daniel Kelleher stammt aus einer großen Familie, so dass in der ersten Zeit ihrer Ehe an manchen Wochenenden die Verwandtschaft mit bis zu vierzig Nichten und Neffen bei ihnen herumwimmelt. Inzwischen ist das Haus zum Anlass und Symbol endloser Familienstreitigkeiten geworden. Familientreffen, die früher einmal spontan und aufrichtig verabredet wurden, sind einer strengen Einteilung der Sommerauffenthalte gewichen. Der Sohn Pat teilt sich und seinen beiden Schwestern einen der Sommermonate zu, kümmert sich um die Instandhaltung der beiden Ferienhäuser und setzt selbstverständlich voraus, dass er den Besitz einmal erben wird. Sich um die allmählich sonderbar werdende Alice zu kümmern, wird zunehmend als Last empfunden. Die Älteste, Kathleen, lebt tausende Kilometer entfernt in Kalifornien und hat sich seit Jahren nicht mehr in Maine blicken lassen. Die Geschwister scheinen sich aus dem Weg zu gehen. Die Absprachen, wer in diesem Sommer wann nach Maine fahren wird, verdecken nur notdürftig die Unversöhnlichkeit zwischen Großmutter, Kindern und Enkeln. Doch Alice hat ohne Wissen ihrer Kinder eigene Pläne gemacht. Besonders Alices Tochter Kathleen hat in ihrer Kindheit unter einer Mutter gelitten, die ursprünglich keine Kinder wollte und ihren Lebensentwurf den Wünschen der katholischen Kirche und anderer Menschen unterordnete. Der Wunsch, anders als die eigene Mutter leben zu wollen, wird in Alices Umgebung als sündhaft angesehen. Der Druck auf die Töchter, sich zwischen Mutterschaft und einem Leben als Nonne entscheiden zu müssen, wurde über Alice an Kathleen weitergegeben. Kathleens Tochter Maggie schlingert bisher nicht anders als ihre Mutter durchs Leben; eine andere Enkelin weicht dem irisch-katholischen Dogma sogar bis nach Afrika aus. Sprachlosigkeit, Konfliktscheu, Schuldgefühle und Alkoholismus prägen den Umgang bei den Kellehers. Wichtiges wurde stets verdrängt, wie Alices Schuldgefühl in Zusammenhang mit dem Tod ihrer Schwester. Als nach und nach Alices Familie in Maine eintrifft, droht die Demontage des für Außenstehende sorgsam inszenierten Bildes einer großen glücklichen Familie. Offenbar hat nur noch Maggie die Chance ihre Kindheitserinnerungen als Kraftquelle zu nutzen; für die übrigen Frauen ihrer Familie scheint der Zug abgefahren zu sein. Die Situation des Abschieds vom Ferienhaus als Lebensmittelpunkt einer Großfamilie bietet sich für einen Familienroman geradezu an. Die Starrheit der Kelleher-Frauen und ihre Unfähigkeit sich weiter zu entwickeln machte den Roman für mich zu einer Enttäuschung. Auf hunderten von Seiten wird kleinkarierter Familientratsch ausgebreitet. J. Courtney Sullivan nennt in ihrem hochgelobten Roman zwar Orte an der Küste von Maine, doch gelingt es ihr nicht, die Atmosphäre der Region zu vermitteln, die Leser sich unter dem Romantitel "Sommer in Maine" versprechen könnten.

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